Österreichische PolitikjournalistInnen und das World Wide Web

Heutzutage gehört das Recherchieren im Internet für die meisten JournalistInnen zum Berufsalltag. Doch wodurch zeichnet sich ihre Arbeit aus, und welche Einstellungen zu bzw. welcher Umgang mit den neuen Medien resultieren daraus? Die "Veränderung des Politik-Journalismus durch Quellendigitalisierung und Internet-Recherche" haben Emmerich Tálos, emeritierter Professor am Institut für Staatswissenschaft, und seine MitarbeiterInnen Daniela Kraus und Andy Kaltenbrunner in dem vom Jubiläumsfond geförderten und kürzlich abgeschlossenen Projekt untersucht.

In Rahmen des vom 1. Jänner 2009 bis 1. September 2010 gelaufenen Projekts wurden in Kooperation zwischen dem Institut für Staatswissenschaft und dem Medienhaus Wien 100 österreichische Radio-, Online-, Fernseh-, Print- und AgenturredakteurInnen im Bereich Politik zu ihrer Recherche- und Arbeitssituation sowie ihrem Umgang mit dem World Wide Web befragt. "Digitalisierung bedeutet mehr als nur einen technischen Wandel. Für die JournalistInnen führt es zu einer Veränderung des Berufsbilds", erklärt Projektmitarbeiterin Daniela Kraus vom Institut für Geschichte und Medienhaus Wien.

Nicht alles ist online verfügbar

Den JournalistInnen stehen heutzutage durch das Internet vielfältige nationale und internationale Quellen zur Verfügung. Auf der anderen Seite gibt es durch mangelnde Retrodigitalisierung große Lücken: "Mit Ausnahme der 'Arbeiterzeitung' gibt es beispielsweise keine österreichische Tageszeitung vor 1988 online. Durch die Annahme, alles sei online verfügbar, haben manche Redaktionen keine Archive mehr. Statt offline zu recherchieren, werden dann oft Zitate aus zweiter Hand übernommen", so die Historikerin.

Denn die Recherchezeit ist knapp. Nur 28 Prozent der Befragten sind zufrieden mit der ihnen zur Beschaffung notwendiger Basisinformation zur Verfügung stehenden Zeit. Gleichzeitig nimmt für 85 Prozent der Aktualitätsdruck zu.

Politikinfos aus Wiki


Doch selbst die Onlinerecherche bleibt oft an der Oberfläche: "Quellen, die nicht über Suchmaschinen auffindbar sind, werden selten genutzt. Dasselbe gilt für kostenpflichtige Online-Archive. Google und Wikipedia müssen in den meisten Fällen genügen." Dass Wikipedia dabei gerade bei Politik-Themen gelegentlich fragmentierte Information liefert, zeigt eine politikwissenschaftliche Analyse ausgewählter Wikipedia-Einträge durch Projektleiter Emmerich Tálos, seit 1983 Professor für Politikwissenschaft an den Instituten für Politikwissenschaft und Staatswissenschaft und seit Oktober 2009 offiziell im Ruhestand.

Twitter, Facebook & Co

Obwohl das Internet von 64 Prozent der Befragten als "sehr wichtig" eingestuft wurde und damit als Recherchemittel nach externen persönlichen Gesprächen (88 Prozent "sehr wichtig") und Telefonaten (80 Prozent "sehr wichtig") an dritter Stelle steht, werden neben Wikipedia andere Web-2.0-Anwendungen kaum genutzt. Nur acht Prozent der Befragten nutzen Weblogs, zehn Prozent Twitter und 23 Prozent soziale Netzwerke wie Facebook täglich. Mehr als die Hälfte benutzt die Dienste beruflich gar nicht oder seltener als einmal im Monat.

Einstellung zum Internet abhängig von der Qualifizierung


Die Meinungen zu den Auswirkungen des Internets auf den Journalismus sind gespalten. Während etwa ein Drittel keine Qualitätsveränderungen sieht, prognostizieren die anderen Befragten zu etwa einem Drittel jeweils eine Verbesserung bzw. Verschlechterung. "Die Einstellung zum Internet hängt eng mit der Qualifizierung zusammen. Schätzen sich die Befragten als kompetent im Umgang mit Onlinequellen ein, bewerten sie diese auch positiver", erläutert Projektmitarbeiter Andy Kaltenbrunner von Medienhaus Wien.

Nur knapp die Hälfte der Befragten beurteilt die eigene Online-Recherchekompetenz als sehr gut oder gut, 40 Prozent noch als befriedigend. Je älter die Befragten, desto weniger gut fiel das Urteil aus. Doch gerade mal 23 Prozent der PolitikjournalistInnen haben innerhalb der letzten drei Jahre an einer Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme teilgenommen.

Einheitliches Medienverständnis notwendig


"Oft geht es in den Debatten über Neue Medien nur darum, ob das Internet gut oder schlecht für den Journalismus ist", beschreibt Daniela Kraus den vereinfachten Diskurs: "Eine Differenzierung findet selten statt."

Abhilfe könnten den WissenschafterInnen zufolge Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Zugangsverbesserungen zu digitalen Quellen und eine pluralistische Medienöffentlichkeit schaffen: "Sowohl in der Politik als auch in der Nachwuchsausbildung muss sich ein konvergentes Medienverständnis entwickeln. Die Zeit der getrennten Welten ist vorbei." (mw)

Das Projekt "Veränderung des Politik-Journalismus durch Quellendigitalisierung und Internet-Recherche" wurde in Kooperation des Instituts für Staatswissenschaft und dem Medienhaus Wien vom 1. Jänner 2009 bis zum 1. September 2010 durchgeführt. Es wurde vom Jubiläumsfond der Österreichischen Nationalbank gefördert, Projektleiter war Univ.-Prof. Dr. Emmerich Tálos i.R., der bis zu seiner Pensionierung im Oktober 2009 am Institut für Staatswissenschaft beschäftigt war. ProjektmitarbeiterInnen: Dr. Daniela Kraus, geschäftsführende Gesellschafterin von Medienhaus Wien und Lehrende am Institut für Geschichte sowie Dr. Andy Kaltenbrunner, Gesellschafter von Medienhaus Wien.



Buchtipp:
Andy Kaltenbrunner, Matthias Karmasin, Daniela Kraus (Hg.): Der Journalisten Report III. Politikjournalismus in Österreich. Facultas Verlag: Wien 2010.