Nachkriegs-Diaspora(s) in Österreich

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina ist seit 21 Jahren beendet, der Konflikt zwischen den drei Volksgruppen aber noch lange nicht gelöst. In ihrem aktuellen Projekt erforscht die Soziologin Ana Mijić, wie BosnierInnen in Österreich vor diesem Hintergrund ihr Selbstbild konstruieren.

Vor ziemlich genau 21 Jahren wurde der Krieg in Bosnien-Herzegowina mit dem Dayton-Friedensabkommen beigelegt. Was bis heute bleibt: ethnische Spaltung und ein Land in sozialer, politischer Prekarität. Serbische, kroatische und bosniakische PolitikerInnen können sich nach wie vor nicht einigen, in welcher Form sie zusammenleben möchten. Der Krieg wird fortgesetzt – nur mit anderen Mitteln: "Ethnonationalistische Parteien dominieren die politische Landschaft, bosniakische Kinder werden auch 2017 noch getrennt von kroatischen oder serbischen Kindern unterrichtet, die Medien sind ethnisch segregiert", berichtet Ana Mijić über die aktuelle Lage im Land.

Der Friedensvertrag von 1995 teilte das Land entlang der Frontverläufe: Bosnien-Herzegowina besteht aus der Republik Srpska, in der mehrheitlich SerbInnen leben, und der Föderation Bosnien-Herzegowina, die vorwiegend von BosniakInnen und KroatInnen besiedelt wird. (Grafik: Panonian/Wikimedia Commons)

Für ihre Dissertation hat Ana Mijić viel Zeit in Bosnien-Herzegowina verbracht, um im Kontext der Segregation Identitätskonzepte zu untersuchen. Die bosnische Identitätsfrage beschäftigt die junge Soziologin noch immer – in ihrem aktuellen Hertha-Firnberg-Projekt forscht sie allerdings nicht am Balkan, sondern vor ihrer Haustür: zur bosnischen Diaspora in Österreich.

Nationaler Kosmopolitismus

Die Soziologin möchte herausfinden, wie Menschen in der Diaspora ihre Selbstbilder konstruieren, wodurch ihre Selbstbilder geprägt sind und inwiefern sie die Wirklichkeit in Bosnien-Herzegowina mitbestimmen. Ihre These: Nationalismus und Kosmopolitismus stehen einander nicht gegensätzlich gegenüber, sondern sind im Zusammenspiel für die Identitätsfindung konstitutiv.

"Die ethnische Zuschreibung zu einer der drei Volksgruppen und die Migrationserfahrung vermischen sich und eröffnen so einen Zwischenraum", erklärt Mijić: "Auf diese Weise entstehen möglicherweise hybride Identitäten, um es mit den Worten von Homi K. Bhaba, Theoretiker des Postkolonialismus, zu sagen."

Geschichten aus der Diaspora

Diesem Zwischenraum ist Ana Mijić mit narrativen Interviews und Gruppendiskussionen auf der Spur. Dazu sammelt sie Geschichten von jenen, die als GastarbeiterInnen nach Österreich gekommen sind, ebenso wie Geschichten von geflüchteten Menschen und Personen, die in Österreich geboren oder nach Österreich immigriert sind.

Mein Verein, dein Verein

Die einstigen GastarbeiterInnen, aber auch andere MigrantInnen, organisierten sich vor rund 50 Jahren in Kultur- und Sportvereinen, die zum Teil noch heutzutage bestehen und sich in das Wiener Stadtbild einfügen. Auch hier konnte die Wissenschafterin eine ethnische Segregation ausmachen: Die Vereine sind mit Beginn des Krieges in serbische, kroatische und bosnische Vereine zerfallen. Die bosnischen Clubs wurden aber vor allem von den muslimischen BosniakerInnen besucht. "Ich vermute, dass wir es in Österreich mit mehreren bosnischen Diasporas zu tun haben", so die Einschätzung der Soziologin.


Die physische Gewalt wurde mit dem Dayton-Abkommen beendet, aber der Kampf um die Durchsetzung der Wirklichkeitsperspektive dauert an


Vom "Ich" zum "Wir"

Ana Mijićs bisherige, im Rahmen ihrer Dissertation durchgeführte, Analyse in Bosnien-Herzegowina ergab: Das Selbstbild der BewohnerInnen hängt stark mit der kollektiven Identität zusammen. Um diese zu schützen, werden Viktimisierungsstrategien angewendet, denn: Wer Opfer ist, kann nicht auch TäterIn sein. Den jeweils Anderen wird dagegen ihr Opferstatus oft abgesprochen. So wird etwa im Hinblick auf die Vertreibung von Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit argumentiert: "Sie sind freiwillig gegangen, um der Weltöffentlichkeit glauben zu machen, dass sie vertrieben wurden."

Es kommt aber auch regelmäßig dazu, dass der Krieg von ZeitzeugInnen subjektiviert wird. Sie berichten vom "Krieg, der kam und alles zerstört hat". Individuen werden auf diese Weise von jeglicher Verantwortung befreit; nicht nur die eigene, sondern alle ethnischen Gruppen werden zum Opfer stilisiert.

Fortdauernde Zuschreibungspraxis

Doch nochmal zurück: Warum ist die Ethnie auch 21 Jahre nach Kriegsende noch relevant? "Die Menschen wurden im Bosnienkrieg auf ihre ethnischen Zugehörigkeiten reduziert, alle anderen Identitätskonzepte wurden sekundär", berichtet Mijić über die Zuschreibungspraxis, die anzudauern scheint.

Diejenigen, die von den Folgen des Bosnienkrieges profitieren, sind die nationalistischen PolitikerInnen: Nach wie vor wird in der Bevölkerung die Angst geschürt, dass sich die "ethnischen Säuberungen" wiederholen könnten. "Das garantiert ihnen die Wiederwahl", erklärt Ana Mijić und ergänzt: "Hätten die Menschen keine Furcht, würden sie vielleicht Parteien jenseits des ethnischen Spektrums wählen."

Das Hertha-Firnberg-Stipendium ist ein Postdoc-Programm zur Förderung von Frauen, die am Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere stehen. Ziel ist es, junge und hervorragend qualifizierte Wissenschafterinnen im Sinne einer gezielten Karriereentwicklung bei ihrem Einstieg in eine Universitätslaufbahn zu unterstützen und ihnen eine finanzierte Stelle an der jeweiligen Forschungsstätte zu bieten.

Ein Thema, viele Betroffene

Bosnische Eltern, kroatischer Name, deutscher Pass und wohnhaft in Österreich – Ana Mijić kennt sich mit dem Thema der transnationalen Identität aus. Eine besondere Relevanz bekommt die Beschäftigung mit hybriden Identitäten für Ana Mijić aber vor allem angesichts der aktuellen weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen. "Was ich in meinem aktuellen Projekt herausfinde, gilt nicht nur für die bosnische Diaspora, sondern ist auf viele Migrationsverläufe anwendbar", betont die junge Soziologin. (hm)

Das Projekt "Nachkriegs-Diaspora(s): Kosmopolitischer Nationalismus?" unter der Leitung von Dr. Ana Mijić, M.A. vom Institut für Soziologie der Fakultät für Sozialwissenschaften läuft vom 1. Januar 2016 bis zum 29. Februar 2020 und wird im Rahmen des Hertha-Firnberg-Programms vom FWF gefördert.