"Meine Forschung": Hans Sedlmayr und das Geheimnis des Erfolges

Mit "Verlust der Mitte" präsentierte Hans Sedlmayr 1948 die Kunstgeschichte als Krankengeschichte. Wie der Erfolg des Werks in einer Zeit der politischen und kulturellen Neukonsolidierung zu erklären ist, zeigt die Analyse des kulturkritischen Denkens seit Ende des 19. Jahrhunderts.

"Das soll Kunst sein?" – auf solche und ähnliche Weise raunt das Publikum nicht selten in Gegenwart von Werken der zeitgenössischen bildenden Kunst. Deren klassischer Kanon wurde in mehreren Etappen seit dem 19. Jahrhundert aufgebrochen. Seither provozieren die Avantgarden euphorische Bewunderung wie empörten Protest.

Kunstgeschichte als Krankengeschichte

Mit der Veröffentlichung von "Verlust der Mitte", einer Krankengeschichte der modernen Kunst, bringt sich der Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr 1948 medienwirksam in diesen Streit ein.

Dabei ist die Pathographie (wörtlich: "Zeichnung eines Krankhaften") kein neues Mittel. Max Nordau instrumentalisierte sie zuerst 1892/93 in "Entartung" erfolgreich. Der Pariser Nervenarzt wendete sein psychiatrisches Fachwissen systematisch auf die Kunstproduktion seiner Zeit an, indem er Henrik Ibsen und Emile Zola – um nur zwei prominente Beispiele zu nennen – zu Geistesgestörten erklärte. So prägte der Autor mit seinem Bestseller nachhaltig einen Diskurs. Dieser lässt sich in die völkische Kunstkritik und in die nationalsozialistische Kunstpolitik hinein verfolgen. Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung war die Ausstellung "Entartete Kunst" 1937 in München, die einherging mit Enteignungen öffentlicher wie privater Sammlungen und Berufsverboten.

Im uni:view-Dossier "Meine Forschung" stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.


Nach dem 2. Weltkrieg entbrennt eine Debatte um das "Menschenbild". Als Kampfterminus dient es dazu, die abstrakte gegen die figurative Kunst auszuspielen. Dadurch wird nicht weniger als eine Mitschuld der Kunst an den Schrecken der jüngsten Vergangenheit suggeriert. Auch ehemalige Befürworter der Moderne, wie der Künstler Rudolf Schlichter und der Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein skandieren nun eine Rückkehr zum Gegenständlichen. Mit dem "Verlust der Mitte" liefert Sedlmayr mit der Streitschrift ein geflügeltes Wort, das von nun an jahrzehntelang kursieren wird um dem Unbehagen der modernen Kunst gegenüber Ausdruck zu verleihen.

Moderne-Kritik als Karriere-Katalysator

Seit seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Wien Mitte der 1930er Jahre, äußert sich Hans Sedlmayr in zahlreichen Aufsätzen skeptisch der künstlerischen Moderne gegenüber. In seiner Kritik verlässt er den Boden der zuvor angestrebten empirischen Basis, er ist politisiert. Als Anschlussbefürworter und NSDAP-Mitglied wird er 1945 in das Arbeits- und Publikationsverbot entlassen. "Verlust der Mitte" erscheint in dieser misslichen Situation, in der er sich befindet, als eine Art Rettungsanker. Erst ausgeworfen trägt dieser wesentlich dazu bei, dass sich die akademische Karriere in München fortsetzt.


Mit 180.000 verkauften Exemplaren ist "Verlust der Mitte" ein Bestseller innerhalb der Fachliteratur. Aber handelt es sich tatsächlich um ein kunstgeschichtliches Werk? Der Vergleich mit Nordaus zweibändigen Skandalerfolg macht deutlich, dass sich die Argumentationsstrategien ähneln. Im vorbildhaften Werk spricht der Kunstkritiker Nordau als Facharzt für Nervenkrankheiten. Formal schließt Sedlmayr im dreiteiligen Aufbau der "Symptome", "Diagnose und Verlauf" und "Prognose und Entscheidung" an "Entartung" an. Die medizinische Terminologie zieht sich durch den Text. Aus der Perspektive des ärztlichen Laien zieht der Kunsthistoriker psychiatrische Fachliteratur heran, um entsprechende Krankheiten an diversen zeitgenössischen Stilen zu konstatieren. Dabei impliziert der ärztliche Ton Autorität, die das Publikum offenbar zu schätzen wusste.

Kulturkritik als Schlüssel

In beiden Fällen agieren die Autoren als Kulturkritiker. Kulturkritik, das ist die Bankrotterklärung des Glaubens an den Fortschritt. Sie ist das verbale Eingeständnis des Scheiterns an den Ansprüchen, die der gesellschaftliche Wandel an das Individuum stellt. Jenseits disziplinärer Grenzen mit der öffentlichen Meinung operierend, schürt sie nicht selten das pointiert zuvor gerauntes Ressentiment gegen das Neue. Ihre Erfolgsgeschichte ist folgenreich für das gesamte 20. Jahrhundert.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Kulturkritik in liberalen Gesellschaften das öffentliche Räsonnement stimulieren kann, während ihre institutionalisierte Form in totalitären Staaten alle Gegenstimmen blockiert.

In meiner Dissertation untersuche ich an Hand von "Verlust der Mitte" die Wirkmacht kulturkritischen Denkens. Mittels der Diskursanalyse lässt sich das Paradigma der als krank empfundenen Kunst vom 19. Jahrhundert über die Agitation der völkischen Fundamentalisten bis hin in die Nachkriegsära sichtbar machen.

Maria Männig (Foto: Elsa Okazaki), geb. 1980 in Burgstädt (D), studierte Tapisserie an der Akademie der bildenden Künste, Wien und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Seit 2012 ist sie Dissertantin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Das Thema ihrer Doktorarbeit lautet "Von der Krankheitsmetapher zur Nichtkunst. Die Kritik der Moderne in Hans Sedlmayrs Schriften von 1934 bis 1955 und ihre zeitgenössische Rezeption im deutschsprachigen Raum".

Buchtipps zum Thema:
Bollenbeck, Georg, "Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders",  München 2007
Sedlmayr, Hans, "Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit", Salzburg 1948
Wyss, Beat, "Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik", Köln 1997.