"Meine Forschung": Die Schriftsteller und ihr Volk

Die Rolle des Begriffs "Volk" in der deutschen Literatur und Identität im 18. Jahrhundert untersucht DOC-Stipendiat Timon Jakli in seiner Dissertation am Institut für Germanistik der Universität Wien.

Wie es scheint, hat der Begriff Volk in allen seinen möglichen und unmöglichen Kombinationen wieder Konjunktur. Angefangen bei Volksbefragungen bis hin zu diversen Umvolkungs-Sagern vom rechten Rand ist das "Volk" in aller Munde. Was genau darunter zu verstehen ist, lässt sich meist nur schwer fassen. Das Dissertationsprojekt des Literaturwissenschafters Timon Jakli geht zurück an die Ursprünge dieses hart umkämpften und nie ganz eindeutigen Konzepts: Er untersucht die Rolle der Konzepte "Volk" und "Volkspoesie" für die deutsche Identitätsbildung zwischen 1756 und 1848.

Die Idee und ihre Ursprünge

Deutschland war vor etwa 250 Jahren weit weg davon, ein vereinigter Staat zu sein. Eine große Zahl an Fürstentümern verfolgte ihre eigenen Interessen und kopierte meist das Alltagsleben des französischen Hofes in kleinerem Maßstab. Zwischen dem höheren Adel und der großteils eher armen und ungebildeten Bevölkerung gab es eine schnell größer werdende Schicht aufstrebender und gut gebildeter Bürgerlicher.

Im uni:view-Dossier "Meine Forschung" stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.


Just als die Uneinigkeit in Deutschland mit dem Siebenjährigen Krieg ihren Höhepunkt erreicht, entwickeln Intellektuelle und Schriftsteller eine Idee: Es gibt etwas, das alle Deutschen über die Grenzen hinweg verbindet – die gemeinsame Sprache und der Schatz an Geschichten. Den Begriff Volk gab es natürlich auch schon vorher, aber Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt ein Prozess, den der Forscher Hans-Peter Hermann als "Janusköpfigkeit" beschreibt. "Volk" wird einerseits zum Symbol einer Emanzipation des Bürgertums, die den Staatenbildungsprozess in Gang bringt. Andererseits hat das Konzept von Anfang an eine Abgründigkeit, die einen Hass auf äußere und innere Feinde möglich macht; diese können national, sozial oder religiös bestimmt werden.

Die Schriftsteller und ihr Volk


Doch eins nach dem anderen: Als Johann Ludwig Gleim 1758 seine Preußischen Kriegslieder von einem Grenadier veröffentlicht, setzt er damit dem Preußischen König, Friedrich II., und seinem Vaterland ein lyrisches Denkmal. Dass dieses Denkmal sozusagen in Blut schwimmt, stört Gleim nicht: Munter wird dahingeschlachtet und Wein aus Russenschädeln getrunken. Das feucht-fröhliche Gemetzel stört auch den sonst eher für aufklärerische Töne bekannten Lessing nicht – er sieht in den Liedern eine "neue Gattung von Ode" verwirklicht: Lieder, in denen das Deutsche (was auch immer das ist) zum Klingen gebracht wird. 

Die Lieder üben eine starke Faszination auf die Nachgeborenen aus, auch auf Johann Gottfried Herder: Der Pastor aus Riga arbeitet zum ersten Mal eine Art Theorie des Volksmäßigen aus. Für ihn sind Völker Gemeinschaften, die durch regionale Bedingungen geprägt sind: die Gesellschaft, das Klima und so weiter. Daher seien Völker auch unterschiedlich, für Herder wäre eine reine Nachahmung der Franzosen oder Griechen lächerlich. Herder sucht die den jeweiligen Völkern entsprechenden Lieder – denn in ihnen sieht er eine Kultur, in der sich die unterschiedlichen Völker in ihrer Eigenheit verwirklichen. Gemeinsam hätten sie, so Herder, an einem universalen menschlichen Erzählkosmos teil. Doch das Volk ist natürlich auch nicht jeder dahergelaufene Landstreicher: Bei Herder hat das Volk etwas "Würdig-Kleinbürgerliches".

Der Volkslied-Boom

Herders Ideen finden in der Literatur ein breites Echo, es entwickelt sich ein regelrechter Volkslied-Boom. Verschiedene Autoren und Gruppen beginnen, ihre Gedichte und Werke als Volkslieder zu vermarkten, der Inhalt könnte jedoch nicht unterschiedlicher ausfallen. Die schaurigen Balladen eines Gottfried August Bürger unterscheiden sich massiv von den schwülstigen Liedern der Göttinger-Hain-Dichter oder den Ideen Schillers zu volksmäßiger Poesie. Allen Akteuren ist jedoch gemeinsam, dass sie sich in einem entstehenden Markt positionieren – und letztlich ihre Werke auch an den Leser/die Leserin bringen – wollen. Zudem sind sie alle der Ansicht, endlich einen wahren Ausdruck der deutschen Seele gefunden zu haben, eine Dichtung, die dem eigenen Volk entspricht und nicht einfach Fremdes kopiert.

Das Volk als Erzählgemeinschaft

Die Entwicklung hat ihren Höhepunkt in der bekannten Märchensammlung der Brüder Grimm. Sie statten die vermeintlich aus dem Volk stammenden Märchen und Geschichten mit einer eingängigen Form aus, und speziell Jacob Grimm entwickelt ein komplexes philosophisches System dazu. Er projiziert die gesellschaftliche Mittellage des Bürgertums (zwischen Adel und Pöbel) historisch zurück bis an die Anfänge der Menschheit und identifiziert diese Schicht als Träger des Mythos und der Erzählgemeinschaft. Damit öffnet er den Diskurs wesentlich in Richtung Politik – mit allen positiven und negativen Konsequenzen.

Das Konzept einer Erzählgemeinschaft wird für progressive Teile des Bürgertums ein wesentliches Instrument der Vergesellschaftung und der Nationsbildung. Gleichzeitig bekommen die Begriffe Volk und Nation auch eine antisemitische, partikularistische und andere Völker abwertende Bedeutung, wie beispielsweise die antisemitischen Ausfälle Clemens Brentanos oder die antifranzösischen Gewaltphantasien Heinrich von Kleists zeigen. Diese "Janusköpfigkeit" entwickelt sich in dem beschriebenen Zeitraum immer stärker und wohnt dem Begriff bis heute inne.

Timon Jakli, geb. 18.12.1983 in Eisenstadt, studierte Germanistik, Geschichte und Soziologie in Wien und Konstanz. Für sein Dissertationsprojekt "Von deutschen Sängern, Wäldern und Geliebten – Volk und Volkspoesie von 1756 bis 1848" am Institut für Germanistik erhielt er 2009 ein Forschungsstipendium der Universität Wien und 2012/13 ein DOC-Stipendium der ÖAW. Blog von Timon Jakli.

Buchtipp zum Thema:
Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Hamburg, 2000.