Liebe geschrieben

Feldpostbriefe zwischen Soldaten und ihren Ehefrauen, Brautbriefe an die Verlobte oder die schriftlichen Zeugnisse einer heimlichen Affäre: Am Institut für Geschichte befasst sich ein Team um Christa Hämmerle mit Paarkorrespondenzen zwischen 1870 und 1970. Die Wissenschafterinnen untersuchen, auf welche Weise in den Briefen Liebe zum Ausdruck kommt und wie Beziehungen bzw. Geschlechterpositionen - schreibend - ausverhandelt werden. Erste Leseeindrücke: Frauen- und Männerrollen stehen darin häufig zur Diskussion; Sexualität wird erstaunlich offen thematisiert.

Seit 1991, dem Gründungsjahr der "Sammlung Frauennachlässe", finden immer mehr private Quellen zu den Lebensgeschichten von Frauen aus diversen Schubladen und Dachböden ihren Weg an die Universität. Die Sammlung, die an der von Edith Saurer geleiteten Forschungsplattform "Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext" beheimatet ist, soll der Dokumentation und Analyse solcher Nachlässe dienen - etwa in Hinblick auf die dort archivierten Frauentagebücher oder das Thema Migration. In enger Verbindung mit der Forschungsplattform bearbeiten die Historikerinnen um Christa Hämmerle nun Paarkorrespondenzen, die in erster Linie aus diesen umfangreichen Beständen stammen.

Macht und Liebe im Brief

Mittels qualitativer Inhaltsanalyse und diskursanalytischer Ansätze wird im FWF-Projekt nach Formen der Gestaltung von Beziehungen durch das Medium Brief gefragt. In den Korrespondenzen ausgedrückte Machtverhältnisse und Liebeskonzepte werden ebenso analysiert wie die Spielräume der BriefeschreiberInnen im Spannungsfeld von Liebesdiskursen und eigenen Erfahrungen. Im Projekt befassen sich die Wissenschafterinnen weiters mit dem Vergleich unterschiedlicher Milieus: Erst kürzlich erhielten sie dafür beispielsweise Briefe eines bäuerlichen Brautpaares der 1950er Jahre aus Vorarlberg. Solche Quellen ergänzen die Bestände der "Sammlung Frauennachlässe", die vorwiegend aus dem städtischen Raum Ostösterreichs stammen.

100 Jahre Liebesbrief

Vergilbtes, in Kurrent beschriebenes Papier markiert den Beginn des zu beforschenden Zeitraums: Die ältesten im Projekt untersuchten Briefe wurden vor rund 140 Jahren verfasst und fallen in die erste Zeit der bürgerlichen Frauenbewegung. Die jüngsten Korrespondenzen entstanden erst im Kontext der "sexuellen Revolution" - eine Zeitspanne von rund 100 Jahren, in der Briefe geschrieben und aufbewahrt wurden, um später gefunden und der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich gemacht zu werden.

"Briefe sind nicht einfach authentische, unmittelbar geschriebene Texte", erzählt Hämmerle von den Herausforderungen der Arbeit mit dieser Art von Quelle: "Es gab im 19. wie im 20. Jahrhundert eine Menge von Vorgaben, die das Briefeschreiben normierten - sogar das von Liebesbriefen. Auch sind Briefbestände selten komplett überliefert. Wir verfügen aber glücklicherweise auch über Bestände, die einen gesamten Lebensverlauf dicht dokumentieren."

Der romantische - und in vielen Fällen eben auch reglementierte - Liebesbrief stellt nur eine Variante des Briefwechsels dar: Die Historikerinnen arbeiten mit dem offeneren Konzept der Paarkorrespondenz sowie einem weiten Liebesbegriff: Fürsorge und Freundschaft finden genauso Platz wie Leidenschaft und romantische Liebe.

Der Liebesdiskurs der Moderne

Die Korrespondenzen zeugen von glücklichen und gescheiterten Beziehungen, von Ehen und unkonventionellen Liebesverhältnissen. In der Analyse werden neben den sozialen und politischen Kontexten immer auch die kulturellen Codes der Zeit mitgedacht. Wichtig ist hier vor allem das Konzept der romantischen Liebe im Liebesdiskurs der Moderne: Mann und Frau gehen ineinander auf und erschaffen sich ihre eigene Welt. Auch wenn die Praxis oft eine andere ist, beeinflusst dieses Ideal, wie Menschen über Liebe schreiben. Gleichzeitig zeigen die Korrespondenzen, dass Geschlechterpositionen aktiv verhandelt werden: In Brautbriefen beispielsweise - dem Schriftverkehr zwischen Verlobten - schreiben sich Paare, wie sie sich die zukünftige Beziehung bzw. ihre Rolle darin vorstellen.

Sexuelle Erlebnisse und Körperlichkeit

In ersten Bearbeitungen der "Lieblingsbestände" stießen die Wissenschafterinnen bereits auf Unerwartetes: "Wir sind überrascht darüber, wie offen Sexualität thematisiert wird. Sexuelle Fantasien und Erinnerungen an sexuelle Erlebnisse werden ausführlich beschrieben", so Hämmerle. Darüber hinaus kommt in vielen Korrespondenzen der - im weiteren Sinne verstandenen - Körperlichkeit eine große Bedeutung zu: Frauen berichten über ihre Menstruation, und auch Krankheiten werden detailliert geschildert. "Wir sind gespannt, auf welche weiteren Themen wir noch stoßen werden", schließt die Historikerin. (dh)

Das FWF-Projekt "Paarkorrespondenzen des 19. und 20. Jahrhunderts" wird von Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Christa Hämmerle vom Institut für Geschichte (Projektleiterin) in Kooperation mit Ao. Univ.-Prof. Dr. Ingrid Bauer von der Universität Salzburg durchgeführt. Projektmitarbeiterinnen sind Mag. Ines Marlene Rebhahn-Glück und Dr. Nina Verheyen (Universität Wien) sowie Mag. Barbara Asen (Universität Salzburg). Das Projekt startete im Mai 2010 und läuft bis Oktober 2012.