Koka, Alkohol und Kältetod: Kinderopfer bei den Inka

Drei Kindermumien aus der Inka-Zeit liefern einen tiefen Einblick in das sogenannte "Capacocha-Ritual". Der Kulturwissenschafter Timothy Taylor von der Universität Wien hat die ausgezeichnet erhaltenen Menschenopfer in einem internationalen Projekt untersucht und dazu in PNAS publiziert.

Im Jahr 1999 wurden knapp unterhalb des 6.739 Meter hohen Gipfels des Vulkans Llullaillaco im nordwestlichen Argentinien die tiefgefrorenen Körper dreier Kindern gefunden: Ein 13 Jahre altes Mädchen ("Llullaillaco Maiden") sowie zwei weitere Kinder im Alter von vier bis fünf Jahren waren gemeinsam mit elitären Artefakten und Beigaben in einem steinernen Schrein eingeschlossen.


"Die Leichname der drei Kinder gehören zu den weltweit am besten erhaltenen natürlichen Mumien", betont Timothy Taylor vom Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie der Universität Wien und ergänzt: "Das über 500 Jahre hinweg völlig ungestört gebliebene Ensemble bietet außerordentliche Möglichkeiten für interdisziplinäre Analysen. Und es liefert einen tiefen Einblick in das – aus historischen Quellen bekannte – Capacocha-Ritual der Inka."



Timothy Taylor war der maßgebliche Kulturwissenschafter in einem internationalen Forschungsprojekt, das von Andrew Wilson und Emma Brown vom Institut für Archäologische Wissenschaften der Universität Bradford in Zusammenarbeit mit TED Fellow Constanza Ceruti aus Argentinien und weiteren Partnern aus den USA und aus Dänemark entwickelt wurde. Beteiligt war auch Johan Reinhard, Anthropologe der National Geographic Society und ehemaliger Doktorand der Universität Wien.

"Haarige" Informationen

"Neben computertomografischen Analysen haben wir vor allem das Haar der geopferten Kinder untersucht: Aus diesem lassen sich Rückschlüsse auf Stoffwechseländerungen ziehen", erklärt Taylor. So konnten die ForscherInnen im Fall der "Llullaillaco Maiden" eine Zeitspanne von etwa zwei Jahren vor ihrem Tod zurückverfolgen: Über verschiedene Isotopenverhältnisse und chemische Verbindungen unterschiedlicher Haarabschnitte erhielten die WissenschafterInnen Informationen zur Ernährungssituation, zur geografischen und höhenmäßigen Lage des Aufenthaltsorts sowie zum erhöhten Konsum von Koka-Blättern und Alkohol knapp vor dem Tod.


Die Haaranalyse bei "Llullaillaco Maiden" weist auf ein geplantes Opferritual hin. Es war vermutlich in den zeremoniellen Kalender der Inka eingebaut. Geopfert wurde auch bei unvorhersehbaren Ereignissen wie dem Tod des Herrschers oder Naturkatastrophen. Die Stellung der Mumie – überkreuzte Beinen, leicht nach vorne geneigter Kopf, Hände locker im Schoß – sowie die ungestörte Position der Beigaben legen nahe, dass sie sich nach der Deponierung im Schrein, falls sie noch lebte, kaum mehr bewegt hat. (Foto: Johan Reinhard)



Um die natürlich mumifizierten Körper möglichst nicht zu beschädigen, arbeiteten die WissenschafterInnen mit zerstörungsfreien bzw. minimal-invasiven Techniken. "Der interdisziplinäre Rahmen sollte zudem sicherstellen, dass die naturwissenschaftlichen Ergebnisse mit dem archäologischen Kontext des Fundes, den historischen und sozialanthropologischen Quellen sowie mit Überlegungen aus dem Gebiet der transkulturellen Psychologie im Einklang sind", so Taylor zur Methode.

Koka und Alkohol …

Die hochauflösende Analyse des Haares der "Llullaillaco Maiden" zeigte schließlich: Etwa zwölf Monate vor ihrem Tod hat sich ihre Ernährungsweise dramatisch verändert. "Dieser Wechsel ging wahrscheinlich mit einer Erhöhung des Status bzw. der Auswahl des Mädchens für das Opferritual einher", vermutet der Kulturwissenschafter. In diesem Zeitraum ist auch der Koka-Konsum des Mädchens stark angestiegen. Außerdem hat die 13-Jährige in den letzten eineinhalb Monaten vor ihrem Tod sehr viel Alkohol zu sich genommen – vermutlich in Form des fermentierten Maisgetränks "Chicha".


Ab einem Jahr vor ihrem Tod lässt sich im Haar der "Llullaillaco Maiden" ein erhöhter Konsum von Koka nachweisen. Ein noch heute zwischen ihren Zähnen befindliches Blätterbüschel – in der 3D-Darstellung grün eingefärbt – untermauert dieses Bild. (Grafik: Chiara Villa & Niels Lynnerup/PNAS)



… als psychoaktive Substanzen

"Sowohl Alkohol als auch Koka waren in den präspanischen Anden mit elitären rituellen Praktiken verbunden: Das Bewusstsein wurde in eine Richtung verändert, die als heilig interpretiert wurde", erklärt der Urgeschichtler und betont: "Aus der transkulturellen Perspektive sollte aber auch der psychologisch abstumpfende, verwirrende und stimmungs-verändernde Effekt dieser psychoaktiven Substanzen nicht unterschätzt werden." Eine informierte Zustimmung der Kinder zu ihrem eigenen Tod kann nicht per se angenommen werden. "Bei den zwei jüngeren Kindern war der Koka- und Alkoholkonsum niedriger. Das könnte bedeuten, dass bei dem älteren Mädchen eine stärkere Sedierung nötig war", so Taylor. Da die Opfer keine Spuren von Gewalteinwirkung zeigen, gehen die ForscherInnen davon aus, dass die Kinder durch Erfrieren verstorben sind.

Opfertheorien

Zu den rituellen Tötungen und "Opfern" existieren verschiedene Sichtweisen – in Hinblick auf Absicht, Rollenverteilung und Auffassung von Konzepten wie "Leben" oder "Tod". "Jede dieser Begrifflichkeiten ist somit mit Problematiken verbunden", erklärt Timothy Taylor. "Trotzdem stellen wir fest, dass in den Anden Südamerikas eine lange Tradition ritueller Menschen-Tötungen in verschiedenen Formen existierte. Deren Höhepunkt ist möglicherweise mit der rasanten militärischen und politischen Expansion des Inka-Reichs einhergegangen."


Das Inka-Reich basierte auf einem System stark ausgeprägter sozialer Gliederung, Frondienst und Tributleistungen. "Nicht zuletzt aufgrund der Positionierung mehrerer Capococha-Opfer an weithin sichtbaren Gipfeln lässt sich argumentieren, dass die mit dem Inka-Reich verbundenen, stark choreografierten Rituale bei der sozialen Kontrolle über neu gewonnene Gebiete eine Rolle spielten", so Timothy Taylor von der Universität Wien. Im Bild die alte Inka-Festung Machu Picchu (Foto: Wikipedia)



Die Gruppen, aus der die geopferten Kinder stammten, konnten sich einerseits sozioökonomische Vorteile erwarten, andererseits galt es als großes Vergehen, Trauer zu zeigen. "Stattdessen sollten die Eltern der Opfer 'Gesten des Glücks und der Zufriedenheit' zeigen. So als ob die Kinder eine wichtige 'Belohnung' erhielten", erklärt der Forscher.

Das internationale Projekt basiert auf dem von Timothy Taylor vom Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie der Universität Wien im Rahmen seines Buches "The buried soul" entwickelten charakteristischen Ansatzes einer Archäologie des Todes. "Die Suche nach einer Balance zwischen 'Insider'-Perspektive und empirischer wissenschaftlicher Erkenntnis bleibt freilich dennoch ein komplexes Unterfangen", so Taylor abschließend.

Das Paper "Archaeological, radiological, and biological evidence offer insight into Inca child sacrifice" (AutorInnen: Andrew S. Wilson, Emma L. Brown, Chiara Villa, Niels Lynnerup, Andrew Healey, Maria Constanza Ceruti, Johan Reinhard, Carlos H. Previgliano, Facundo Arias Araoz, Josefina Gonzalez Diez, und Timothy Taylor) erschien am 5. August 2013 in PNAS.

Buchtipp:
"The Buried Soul: How Humans Invented Death" von Timothy Taylor (Beacon 2004)