Integration im Distance Learning? Große gesamtgesellschaftliche Herausforderung

Im Rahmen des EU-Projekts MiCREATE haben Politikwissenschafterin Birgit Sauer und ihr Team eine von der Pandemie besonders betroffene Gruppe wissenschaftlich begleitet: Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrungen. In ihrem Gastbeitrag berichtet Birgit Sauer über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse.

Die Corona Pandemie zeigt, was davor schon da war: Soziale und ökonomische Ungleichheit führt zu weiterer Benachteiligung in der Krise. Im Rahmen des EU-Forschungprojekts MiCREATE (Migrant Children and Communities in a Transforming Europe), in dem es um die Integrationsfähigkeit des österreichischen Bildungssystems geht, haben wir im letzten Jahr eine von der Pandemie besonders betroffene Gruppe wissenschaftlich begleitet und Interviews geführt: Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrungen. Gezeigt hat sich, dass es für diese Gruppe besonders schwer ist, am "Distance Learning" teilzunehmen. Es wurde jedoch deutlich, dass dies weniger mit ihrem sogenannten "Migrationshintergrund" zu tun hat, sondern vielmehr an ihren sozialen und ökonomischen Benachteiligungen liegt. Da in den Diskursen die Perspektiven der Kinder und Jugendlichen jedoch häufig fehlen, arbeiten wir mit einem kindzentrierten Ansatz, der die Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt rückt.

Einseitiges Integrationsverständnis prägt Bildungssystem

Ein einseitiges Integrationsverständnis von Geben und Nehmen (Migrant*innen sollen sich bemühen und anpassen, während die "Mehrheitsgesellschaft" sie lediglich aufnimmt) prägt das österreichische Bildungssystem. Schlechte Beispiele für dieses Integrationsverständniss sind unter anderem leistungsorientierte Integrationsmaßnahmen, wie der MIKA-D-Test und die Deutschförderklassen. Sie machen deutlich, dass der Fokus für eine vermeintlich erfolgreiche Integration vor allem auf dem Erlernen der deutschen Sprache liegt. Integrationsmaßnahmen, die auf das Wohlergehen der Schüler*innen und deren Potenzial (z.B. ihre Muttersprache) abzielen, fehlen. Antidiskriminierungs‑, Antirassismus- und Gleichberechtigungsmaßnahmen in der Bildung fehlen fast vollständig. Zudem fehlt eine Sensibilität für strukturelle soziale Benachteiligungen.

Das Projekt "Migrant Children and Communities in a Transforming Europe" (MiCREATE) verfasste einen Policy-Brief mit Empfehlungen zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen, die die Corona-Krise für Kinder mit Migrationserfahrung mit sich brachte: "Auswirkungen der 'Corona-Krise' auf Kinder mit Migrationserfahrung oder migrantischen Familienhintergründen"


Somit verstärkt das österreichische Bildungssystem die ungleichen Startbedingungen in der Schule und führt dazu, dass der schulische Erfolg von Schüler*innen stark von dem sozialen und kulturellen Kapital ihrer Eltern abhängt. Demnach gilt: Haben deine Eltern eine AHS-Matura und einen Universitätsabschluss, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass auch du das erreichen wirst. Haben deine Eltern allerdings eine geringe Schulbildung, wirst du es ziemlich wahrscheinlich in der Schule schwerer haben. Das Integrationsverständnis österreichischer Institutionen verschärft diese Situation für Migrant*innen, die sowohl sozial, kulturell als auch ökonomisch benachteiligt werden, nicht zuletzt weil sie beispielsweise Jobs aufgrund ihres Aussehens oder Nachnamens nicht bekommen. Viele Studien zeigen, dass dies ein strukturelles Problem ist. Für uns war dies der Ausgangspunkt, um Integration in österreichischen Schulen zu verstehen und in der Pandemie zu analysieren.

Ungleiche Chancen haben sich zugespitzt

Wir haben herausgefunden, dass sich durch die Pandemie diese ungleichen Chancen zugespitzt haben. Während alle Befragten angaben, dass ihnen "die echte Schule" lieber wäre und "Distance Learning" sie vor Herausforderungen stellt, müssen Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrungen häufig einen hohen Mehraufwand leisten, um mithalten zu können. Unzureichende technische Geräte oder kein Internet erschweren den Zugang zum Unterricht. Manche Lehrer*innen berichteten, dass sie mit einigen Schüler*innen seit dem Beginn des "Distance Learnings" keinen Kontakt mehr haben. Unseren Studie zeigt auch, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen die gleichen familiären Unterstützungen erhalten. Während Schüler*innen, die eine AHS besuchen, häufiger von ihren Eltern unterstützt werden, müssen Schüler*innen einer Mittelschule oft in Eigenregie ihre Aufgaben bewältigen. Sprechen die Eltern zudem nicht ausreichend Deutsch, verschärft sich die Situation.

Was kann eine nachhaltige Lösung für diese Probleme sein? Unsere Studie zeigt, dass die Pandemie auf eine größere, gesamtgesellschaftliche Herausforderung verweist und demnach verschiedene Komponenten berücksichtigt werden müssen. Zwar ist der flächendeckende Ersatz fehlender Laptops um am "Distance Learning" teilzunehmen zu können ebenso wichtig wie mehrsprachige Unterrichtsmaterialien. Doch sind dies nur kurzfristige Maßnahmen, um den Schulalltag der Schüler*innen mit Migrationserfahrungen zu erleichtern.

Längerfristig braucht es strukturelle Änderungen und ein Umdenken in der Bildungs- und Integrationspolitik. Ein ganzheitlicher und kindzentrierter Blick, der die sozialen, ökonomischen, kulturellen, aber auch emotionalen Bedürfnisse von Schüler*innen zentral setzt, ist wichtig, um die Dimensionen der Problematik an Schulen besser zu verstehen und zu verändern. Das bedeutet: Bildungs- und Integrationspolitik muss sich am Wohle der Schüler*innen orientieren und dazu die Dichotomie von "Migrant*innen" versus "Nicht-Migrant*innen", die besonders im Diskurs um Schule bedient wird, bekämpfen. Denn die Realität ist: Eine plurale Schule ist nicht das Problem, sie gehört längst zum Alltag der Schüler*innen und Lehrer*innen. Vielmehr ist es das Bildungssystem, das dieser Realität nachhinkt.

"MiCREATE (Migrant Children and Communities in a Transforming Europe)" ist ein interdisziplinäres, europaweites Forschungsprojekt, das bis Ende 2021 läuft. Birgit Sauer vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und ihr Team (Stella Wolter, Mira Liepold und Rosa Tatzber) untersuchen im Rahmen des Projekts die Integrationsfähigkeit des österreichischen Bildungssystems.