Ich fühle was, was du nicht fühlst
| 07. Oktober 2013Egoismus und Narzissmus nehmen in unserer Gesellschaft zu, während die Empathie abnimmt. Ein internationales ForscherInnenteam um Claus Lamm vom Institut für Psychologische Grundlagenforschung hat herausgefunden, dass die Fähigkeit zur Empathie durch unsere eigenen Gefühle verzerrt werden kann.
Menschen beziehen sich bei der Einschätzung ihrer Mitmenschen und ihrer Umwelt auf sich selbst. Dabei tendieren wir dazu, unseren eigenen Gemütszustand auf andere zu projizieren. Während sich die Wahrnehmungsforschung schon ausführlich mit diesem Thema beschäftigt hat, fehlten auf emotionaler Ebene bislang Forschungsergebnisse. Man nahm zwar an, dass Emotionen die Empathiefähigkeit beeinflussen; gemessen wurde diese "emotionale Egozentrizität" aber noch nie.
Genau das ist dem internationalen Forschungsteam des MPI Leipzig, der Universität Zürich, des SISSA Triest und der Universität Wien nun in einer aufwändigen, multi-methodischen Studie gelungen, die aus fünf unterschiedlichen, sich gegenseitig bestätigenden Experimenten bestand. Dabei entdeckten die WissenschafterInnen jenes Gehirnareal, das dafür verantwortlich ist, dass wir unseren eigenen Gefühlszustand von dem anderer Menschen trennen können. Es ist der Gyrus supramarginalis, eine Windung der Großhirnrinde, die sich ungefähr dort befindet, wo Scheitel-, Schläfen und Frontallappen zusammentreffen. "Das war etwas unerwartet, denn wir hatten eigentlich das temporo-parietale Kreuzungsareal im Visier, das ein paar Zentimeter weiter vorn im Gehirn liegt", erklärt Claus Lamm, einer der beiden Erstautoren der Publikation.
Spielzeugschleim und Kunstpelz
In einem Wahrnehmungsexperiment wiesen die ForscherInnen zunächst nach, dass unsere Gefühle tatsächlich die Empathiefähigkeit beeinflussen und sich dieser Egozentrismus auch messen lässt. In Zweier-Teams wurden die Teilnehmerinnen gleichzeitig visuellen und taktischen Reizen ausgesetzt, die entweder angenehm oder unangenehm waren.
Während Teilnehmerin 1 zum Beispiel ein Bild einer Schnecke sah und ihre Hand dabei mit Spielzeugschleim berührt wurde, sah Teilnehmerin 2 ein Bild von einem Kätzchen und fühlte flauschiges Fell auf ihrer Haut. Die Probandinnen sahen außerdem, welchem Reiz ihr Teampartner gerade ausgesetzt war. "Es war wichtig, diese beiden Reize zu kombinieren. Ohne den Berührungsreiz hätten die TeilnehmerInnen nur mit dem Kopf bewertet, die Gefühle wären außen vor geblieben", erklärt Claus Lamm die Herangehensweise.
Anschließend wurden beide Teilnehmerinnen gebeten, entweder ihre eigenen Emotionen oder jene der Partnerin zu bewerten. Diese Übung war einfach, solange beide Probandinnen positiven oder negativen Reizen ausgesetzt waren. Wer etwa gerade mit Stinkwanzen konfrontiert worden war, der konnte sich gut vorstellen, wie unangenehm der Anblick und das Gefühl einer Spinne sein musste.
Differenzen traten erst bei den inkongruenten Versuchsdurchläufen auf, bei denen eine Partnerin mit angenehmen und die andere mit unangenehmen Reizen konfrontiert wurde. Plötzlich sank die Empathie. Die eigenen Emotionen verzerrten die Einschätzung der Gefühle anderer. Wem es selbst gut ging, der bewertete negative Erfahrungen des Partners als weniger schlimm. Wer hingegen gerade eine unangenehme Erfahrung machte, vergab für positive Erlebnisse der Partnerin weniger gute Bewertungen.
Sinkende Empathie
Mit Hilfe von zwei einander bestätigenden Experimenten mit funktioneller Magnetresonanztomografie fanden die ForscherInnen das dafür verantwortliche Gehirnareal. Der Gyrus supramarginalis sorgt dafür, dass wir unsere Selbstwahrnehmung von der Wahrnehmung anderer entkoppeln können. In einem weiteren Experiment wurden die Nervenzellen in diesem Hirnareal nun bei der Arbeit durch eine ergänzende Methode – die transkranielle Magnetstimulation (TMS) - vorübergehend gestört. Dies führte dazu, dass es den Probandinnen wesentlich schwerer fiel, ihre eigenen Gefühle nicht auf andere zu projizieren. Wie ein letztes Experiment zeigte, waren die Einschätzungen der Probandinnen darüber hinaus auch dann ungenauer, wenn diese zu besonders schnellen Entscheidungen gedrängt wurden.
Bisher gingen die Modelle der sozialen Neurowissenschaften davon aus, dass Menschen zur Empathie vor allem ihre eigenen Emotionen als Referenz heranziehen. "Das geht aber nur solange gut, wie wir uns im gleichen Zustand befinden wie unser Gegenüber. Sonst muss das Gehirn gegensteuern und korrigieren", erklärt Claus Lamm.
Es überrascht deshalb nicht, dass gerade bei neurologischen Erkrankungen wie Autismus oder Depression die Empathiefähigkeit gestört ist. Zukünftige Experimente könnten zeigen, ob man dieses Fehlen von Empathie ebenfalls auf neuronaler Ebene beobachten kann. Dann könnte man eines Tages mittels Magnetresonanztomografie vielleicht verfolgen, ob eine Therapie erfolgreich ist oder nicht. (Claudia Steinert)
Die Publikation "Right Supramarginal Gyrus Is Crucial to Overcome Emotional Egocentricity Bias in Social Judgements" (AutorInnen: Giorgia Silani*, Claus Lamm*, Christian C. Ruff, Tania Singer) erschien am 25. September 2013 in The Journal of Neuroscience.