"Hai"-Society in der eozänen Antarktis

Jürgen Kriwet von der Universität Wien hat eine besondere Leidenschaft: die Entstehung und Entwicklung der Knorpelfische in antarktischen Gewässern. Als Paläobiologe hat er aber nicht nur mit dem Heute zu tun, ihn fasziniert ebenso die Vergangenheit mit ihren vorzeitlichen Lebensformen.

"Die Antarktis verschwindet heute nahezu gänzlich unter Eisdecken, die an manchen Stellen bis zu zwei Kilometer dick sind. Doch das war nicht immer so", erklärt der Paläobiologe Jürgen Kriwet von der Universität Wien. In der eozänen Ära, also vor etwa 56 bis 34 Millionen Jahren, herrschte am Südpol subtropisches bis tropisches Klima, und die Antarktis war ein Schlaraffenland für Säugetiere.

Vor 30 Millionen Jahren vollzog sich dann das erdzeitgeschichtliche Großereignis, das in Fachkreisen als das "Aufbrechen Gondwanas" bezeichnet wird. Australien und Südamerika lösten sich endgültig von der Antarktis und isolierten den Kontinent so von anderen Landgebieten. Es kam zu einem drastischen Temperaturverlust in der südlichen Hemisphäre, und seitdem ist die Antarktis zugefroren.

Fische mit Frostschutzmittel

Die Temperatur des umliegenden Südozeans beläuft sich laut aktueller Messwerte auf minus 1,4 Grad. Kann es in diesem Meer aus Eis überhaupt Fische geben? "Tatsächlich leben 1,3 Prozent der weltweiten Fischfauna in den Gewässern der Antarktis", so Kriwet. Es handelt sich um wahre Überlebenskünstler, die sich im Laufe der Zeit an die klimatischen Bedingungen angepasst haben.

"Gerade wenn sich dramatische Klimaveränderungen ergeben, passiert Evolution schnell und ganz deutlich", erklärt der Experte. So gibt es im Südpolarmeer Eisfische mit "Anti-Vereisungsproteinen" oder andere, die gar keine Blutkörperchen mehr ausbilden, da diese ohnehin nur platzen würden.

Aufschlussreiche Zähne

Es gibt jedoch Funde, die belegen, dass sich in der Antarktis auch einmal Knorpelfische wie Haie oder Rochen getummelt haben. Jürgen Kriwet hat mittlerweile 24 vorzeitliche Haiarten identifiziert, die im Eozän die Antarktis bevölkerten. Heutzutage werden die Räuber der Meere nur noch sporadisch im Südpolarmeer gesichtet; sie kommen stationär hierher, um auf Beutetour zu gehen.

Mit seinem aktuellen vom FWF geförderten Forschungsprojekt möchte der Paläobiologe Kriwet der Frage auf den Grund gehen, warum Wale oder Pinguine den klimatischen Wandel überlebt haben, nicht aber die Haie. Um das herauszufinden, schaut er den Haien sprichwörtlich ins Maul: "Bei Knorpelfischen erhalten sich nur die Zähne, das sind unsere Quellen", erklärt der Wissenschafter. Mittlerweile gibt es Methoden, um die Zähne zuverlässig zu datieren.

Die Fischfauna der Antarktis vor etwa 56 bis 34 Millionen Jahren zu erforschen ist wichtig, um zu verstehen, wie sich Klimaveränderungen auf die Lebewelt auswirken. Jürgen Kriwet untersucht aber auch heutige Eisfische, u.a. mittels Mikro-Computertomographie, um mehr über ihre Anpassung an die extremen Umweltbedingungen in der Antarktis zu erfahren.


A: Unterkieferzahnplatte einer Pflugnasenchimäre (Callorhinchus stahli).
B: Zahn eines ausgestorbenen Sandtigerhais (Palaeohypototus rutoti)
C: Rostralzahn eines Sägehais (Pristiophorus sp.)



Eine stetig wachsende Sammlung


Erstmals ist es möglich, anhand der historischen Überreste statistisch quantifizierbare Aussagen über die Entstehung und Entwicklung der Knorpelfische in antarktischen Gewässern zu machen. "Als ich anfing, in diesem Bereich zu arbeiten, hatte ich gerade mal acht bis neun Zähne zur Verfügung; das war Forschung aus dem hohlen Bauch heraus", erinnert sich der Forscher. Durch eine Kooperation des Instituts für Paläontologie mit dem schwedischen Naturkundemuseum in Stockholm und mit einer Forschungsgruppe aus La Plata verfügt die Universität Wien mittlerweile über eine der größten Sammlungen antarktischer Fischfossilien und Zähne weltweit – und es werden stetig mehr: Die KollegInnen aus Schweden und Argentinien reisen jährlich in die Antarktis, um Funde zu bergen.


Jürgen Kriwet kann die Fülle an Material kaum bewältigen und wird fleißig von der Doktorandin Andrea Engelbrecht unterstützt. Geplant ist, dass auch sie im Rahmen des Projekts in die Antarktis reist und vor Ort recherchiert. (Foto: Universität Wien)



Auf den Hai gekommen

Der sympathische Paläobiologe Jürgen Kriwet ist Vizedekan der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie. Die administrativen Aufgaben lassen ihm kaum noch Zeit für Feldforschung, doch da er "Wissenschafter aus Leidenschaft" ist, forscht er nun nachts oder am Wochenende.

Jürgen Kriwet und sein Team an der Universität Wien sind bisher die einzigen ForscherInnen, die erdzeitliche Veränderungen der Fische nicht ausschließlich molekulargenetisch, sondern vor allem morphologisch untersuchen: "Es war lange ein Trend, alles genetisch herleiten zu wollen. Wir möchten interdisziplinärer arbeiten und einen anderen Weg einschlagen." Dieser Kurswechsel beschert den Wiener WissenschafterInnen internationale Anerkennung und Augenmerk. (hm)


Seine Begeisterung für Haie hat übrigens schon im Kindesalter begonnen: "Meine Mutter schenkte mir eines Tages ein Buch, 'Der Superhai'. Danach war alles klar!" Kriwet studierte in Berlin, forschte anschließend zwei Jahre an der Bristol University und landete nach verschiedenen wissenschaftlichen Projekten in Deutschland an der Universität Wien.
Zum Interview mit Jürgen Kriwet: "Die Evolution des Lebens verstehen"



Das FWF-Projekt "Evolutionäre Dynamik eozäner Knorpelfische der Antarktis" von Univ.-Prof. Dipl.-Geol. Dr. Jürgen Kriwet vom Institut für Paläontologie läuft vom 01.02.2014 bis zum 31.01.2017. KooperationspartnerInnen sind das schwedische Naturkundemuseum in Stockholm sowie die Forschergruppe des Naturkundemuseums in La Plata aus Argentinien.