"Gesellschaft nicht aus den Augen verlieren"

In der Forschungsplattform "RaT" der Universität Wien stehen WissenschafterInnen aus 14 Fachdisziplinen über die miteinander verstrickten religiösen und sozialen Veränderungsprozesse im Dialog. Für Sprecher Kurt Appel ist dabei der Gesellschaftsbezug besonders wichtig.

Die bisherige Bilanz der seit 2010 laufenden Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary Society" (RaT) ist äußerst erfolgreich: Neben mehreren abgeschlossenen und aktuell laufenden Forschungsprojekten wurde im Rahmen der Plattform auch eine eigene Buchreihe gegründet, die bislang zwölf Publikationen umfasst. Zudem haben die WissenschafterInnen eine interdisziplinäre digitale Open-Access Zeitschrift mit peer-review Verfahren ins Leben gerufen, die halbjährlich mit rund zehn Artikeln erscheint.

"Ausgangspunkt unserer Plattform ist es, die Wirkung und Präsenz von Religion in der Gesellschaft zu untersuchen", sagt Kurt Appel vom Institut für Systematische Theologie und Ethik: "Das heißt für uns aber nicht nur über Religion in der Gesellschaft zu forschen, sondern auch in die Gesellschaft zu 'gehen' und sich auszutauschen."

Gebündelte Expertise

15 WissenschafterInnen, 14 Disziplinen und sieben Fakultäten – derart interdisziplinär präsentiert sich die Forschungsplattform. Die Expertise kommt u.a. aus den Fachrichtungen der katholischen und evangelischen Theologie, Religionswissenschaft, Sozialwissenschaften, Rechtswissenschaften, Kulturwissenschaften sowie Philosophie und Bildungswissenschaften. "Diese Art der interdisziplinären Zusammenarbeit ist äußerst bereichernd und macht noch dazu viel Spaß", so Theologe Kurt Appel.

Gegründet im Jahr 2010 und bereits zwei Mal verlängert, befindet sich RaT derzeit in der dritten Phase, die bis März 2018 läuft. Man kann sagen, dass sich der Fokus im Laufe des Bestehens vergrößert hat: Lag er in der ersten Projektphase noch auf Wien und Österreich, folgte in der Verlängerung der Blick auf Europa, um sich aktuell mit globalen Thematiken wie Flucht, Migration und Grenzen in Verbindung mit Religiosität auseinanderzusetzen.

Europa und die Welt

Die verschiedenen Religionen in Wien waren Thema eines großen Projekts in der ersten Laufzeit der Forschungsplattform. Ergebnis ist eine interaktive Karte von Wien, in der über 800 Orte, die von religiösen Gruppen in Wien genutzt werden, markiert sind. Die Karte ist nach Religionsgemeinschaft, Adresse, Tradition und Strömung durchsuchbar. In Kombination mit dem Projekt "Kartographie der Religionen in Wien" wurden auch drei weitere Forschungsprojekte durchgeführt und bereits abgeschlossen: "Mission in Wien", "Geschichte der Vereinigungsbewegung in Österreich" und "Formen des Interreligiösen Dialogs in Wien".

Das vorrangige Projekt in der zweiten Laufzeit von RaT stellte "Rethinking Europe with(out) Religion" dar. Hier fragten die WissenschafterInnen nach dem Beitrag von Religion für eine mögliche neue Vision Europas. "Themen in diesem Cluster waren u.a. die rechtlichen Herausforderungen, also inwieweit etwa Religionsfreiheit und die rechtlichen Ansprüche, die Religionen wiederum stellen, vereinbar sind", erklärt Appel und ergänzt: "Auch untersuchten wir gegenwärtige Sinndebatten – dabei ging es hauptsächlich um die Frage, inwieweit Europas Werte auch religiös verankert sind."

Religiös und säkular

Appel und sein Team konnten im Rahmen des Forschungsprojekts feststellen, dass man längst nicht mehr den Gegensatz religiös vs. säkular ziehen kann: "Diese Art der Unterscheidung funktioniert so nicht. Die Grenzen werden fließender und oftmals definiert sich eine Person nicht derart binär", resümiert der Wissenschafter: "Die EU war vormals stark vom Säkularismus Frankreichs geprägt. Hier fand eine Gewichtsverschiebung statt. Wir konnten in unserer Forschung feststellen, dass eine lineare Fortschreibung des Säkularismus nicht stattfindet. In Europa zeigt sich heute ein großes Kaleidoskop von ganz unterschiedlichen Formen der Religiosität."

Globale Grenzen

Aktuell liegt der Fokus von RaT auf Religion in Verbindung mit Grenzen und Migration. "Gerade in diesem Bereich sind wir global mit großen Herausforderungen konfrontiert", sagt Appel. Derzeit laufen acht verschiedene Forschungen zu dieser großen Thematik, darunter "Leben und Lernen von und mit Flüchtlingen" und "Migration, Flucht und Religion". "Wir haben leider ganz schwaches statistisches Zahlenmaterial zu globaler Religiosität, zu Migration schaut es auch nicht viel besser aus. Das wollen wir mit Hilfe unserer Plattform ändern", erklärt der Theologe.

An wichtigen gesellschaftlichen Thematiken mangelt es der Plattform nicht. So gibt es bereits Überlegungen, die Forschungsplattform in ein Zentrum überzuführen. "Kaum eine Universität ist so breit in der Religionsforschung aufgestellt wie die Universität Wien. Wir haben das Potenzial, weltweit führend in diesem Bereich zu werden", ist Appel überzeugt und betont: "Ich sehe unsere Forschungsplattform als Beitrag für die Gesellschaft, denn deren Anliegen dürfen wir nicht aus den Augen verlieren." (td)

Die interdisziplinäre Forschungsplattform der Universität Wien "Religion and Transformation in Contemporary Society" (RaT) unter der Leitung von Kurt Appel wurde 2010 gegründet. Bis dato wurde sie zwei Mal verlängert und läuft aktuell bis März 2018. Danach ist eine Überführung in ein permanentes Zentrum an der Universität Wien angedacht. Auf dem RaT-Blog schreiben die Mitglieder der Plattform über ihre Forschung und aktuelle Themen.