Evolutionsforschung: Die fünf Finger der Vögel

Forscher am Department für Theoretische Biologie der Universität Wien konnten nachweisen, dass bei Vögeln Daumen, Zeige- und Mittelfinger eigentlich Zeige-, Mittel- und Ringfinger sind. Sie publizierten dazu im Journal of Experimental Zoology.

Bei den meisten Landwirbeltieren (Tetrapoden) ist der erste Finger, der embryonal angelegt wird, der vierte (Ringfinger). Auch bei Vögeln wird der Finger auf der Handaußenseite (posterior) als erster angelegt, was dafür spricht, dass es sich dabei um den Ringfinger handelt. Es konnte jedoch nachgewiesen werden, dass auch anterior – also auf der Handinnenseite – eine embryonale Fingeranlage vorhanden ist, die allerdings schnell wieder verschwindet. Diese Daten sprechen für eine Identifizierung der Finger als Zeige-, Mittel- und Ringfinger (II, III, IV). 


Die Grafik zeigt eine schematische Darstellung der Finger-Reduktion bei den Dinosauriervorfahren der Vögel. (Grafik: Brian Metscher)



Allerdings ähneln die drei Finger von Archaeopteryx – dem frühesten bekannten Vogel –, denen der Dinosaurierart Deinonychus, mit der er wohl nahe verwandt war. Fossilreihen belegen die Reduktion von zwei Fingern an der posterioren Seite der Hand unter den Vorfahren von Deinonychus und stützen damit die Daumen, Zeige- und Mittelfinger-Identifizierung (I, II, III) der Vogelfinger. Auch entsprechen die Genexpressionsmuster des vordersten Vogelfingers denen des Daumens bei anderen Tieren und nicht denen des Zeigefingers.

Welche Theorie ist richtig?

Um diesen Widerspruch zu lösen, waren bisher drei Ansätze vorherrschend: 1. Vögel stammen nicht von den Dinosauriern ab, 2. die Dinosauriervorfahren der Vögel hatten ebenfalls die drei mittleren Finger oder 3. die drei vorderen Finger der Vögel wurden irgendwie auf die drei mittleren embryonalen Positionen verschoben. Fakt ist, dass keine dieser Theorien alle vorhandenen Daten erklären kann.

Wichtiges Protein:
Sonic Hedgehog

"Das Erscheinungsbild – der sogenannte Phänotyp – der Finger wird während der Embryonalentwicklung vom Protein Sonic Hedgehog bestimmt, das von der posterioren Handseite ausgeht. Das bedeutet einfach gesagt, dass die Konzentration des Proteins auf der Handaußenseite am höchsten ist und Richtung Handinnenseite abnimmt. Die verschiedenen Fingeranlagen passen daher ihre Genexpression – und in Folge auch ihren Phänotyp – der Sonic Hedgehog-Konzentration in ihrem Umfeld an. Wir haben einen darauf basierenden molekular-biomechanischen Mechanismus erdacht, der in der Lage ist, alle vorhandenen Daten zu erklären ", so Erstautor Daniel Capek, der in der Gruppe von Brian Metscher vom Department für Theoretische Biologie der Universität Wien zu diesem Projekt forschte und derzeit als PhD-Student am IST Austria tätig ist.

Erster Finger reduziert

Nach dieser Hypothese fand in der Dinosaurier-Evolution zunächst tatsächlich eine Posterior-Reduktion statt, bei der anfangs der kleine Finger reduziert wurde und dann wegfiel sowie der Ringfinger teilreduziert wurde. Es ist allerdings deutlich leichter, die beiden äußeren Finger zu reduzieren als zentralere, da diese in der Entwicklung als letztes angelegt werden. Folglich wurde statt des vierten der erste Finger reduziert, und die übrigen Finger nutzten den zur Verfügung stehenden Platz aus, indem sie weiter nach innen wuchsen. Dies führte schließlich dazu, dass diese Finger eine veränderte Sonic Hedgehog-Konzentration vorfinden und ihre Entwicklung dieser anpassen.

"Dieser Mechanismus erklärt, warum die Finger von Archaeopteryx und moderner Vögel die Form der anterioren Finger I, II, III haben, obwohl sie eigentlich die zentralen Finger II, III, IV sind. Gleichzeitig stimmt diese Hypothese mit dem fossilen Befund und den aktuellen entwicklungsgenetischen Resultaten überein", resümiert Brian Metscher vom Department für Theoretische Biologie der Universität Wien. (vs)

Die Publikation "A Molecular-Morphogenetic Approach to Avian Digit Homology" (AutorInnen: Daniel Čapek, Brian D. Metscher und Gerd B. Müller) erschien in der Jänner-Printausgabe des Journal of Experimental Zoology.