Europäische Gesellschaft und Religion im Wandel

Gesellschaft beeinflusst Religion beeinflusst Gesellschaft. Das eine Feld ohne das andere untersuchen und verstehen zu wollen, kommt für Kurt Appel einem "religiösen und politischen Analphabetismus" gleich. Der Theologe leitet eine neue interdisziplinäre Forschungsplattform an der Universität Wien, die erstmals WissenschafterInnen aus sechs Fakultäten im breiten Dialog über die miteinander verstrickten religiösen und sozialen Veränderungsprozesse in Europa vereint.

Migration, Integration und Exklusion oder soziale Werte - oft arbeiten Sozial- und ReligionswissenschafterInnen zu denselben Themen, ohne sich untereinander auszutauschen: "Manche SozialwissenschafterInnen versuchen, Gesellschaft und sozialen Wandel zu verstehen, ohne sich mit Religionen zu beschäftigen", sagt Kurt Appel, Leiter der Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary European Society": "Umgekehrt betreiben viele TheologInnen der diversen Religionsgemeinschaften ihre jeweiligen Forschungen völlig unberührt von gesellschaftlichen Vorgängen und Veränderungen."

Religion als Marke

Dabei gehen soziale und religiöse Veränderungsprozesse oft Hand in Hand. Zum Beispiel sieht Kurt Appel einen deutlichen Einfluss der postmodernen, kapitalistischen Markenlogik auf den gesellschaftlichen Umgang mit Religionszugehörigkeit. "Symbole wie Kreuz oder Kopftuch werden - wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch - von den kulturellen Traditionen abstrahiert, als Marke gehandelt und zu identitätsstiftenden Kennzeichen", erklärt er und meint weiter: "Bisher mangelt es jedoch an Forschungsprojekten, die den Blick auf Religion 'von außen' mit der 'Innenperspektive' kombinieren."

Gebündelte Blickwinkel - erweiterte Perspektive

Die neue, europaweit einzigartige Plattform soll nun den wissenschaftlichen Diskurs über Religion und Gesellschaft zwischen TheologInnen und Nicht-TheologInnen anregen, vorhandene Expertisen bündeln und einen interdisziplinären Forschungsschwerpunkt im Bereich Religionswissenschaft an der Universität Wien etablieren. Mit dabei sind 18 WissenschafterInnen aus sechs verschiedenen Fakultäten - die disziplinäre Bandbreite reicht von katholischer und evangelischer Theologie über Soziologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Orientalistik sowie Politik- und Rechtswissenschaft bis hin zur Philosophie und Bildungswissenschaft.

Ziel ist es, die Bedeutung von Religion in gegenwärtigen sozialen Transformationsprozessen zu verstehen bzw. zu erklären. Gleichzeitig sollen die Einflüsse sozialen und politischen Wandels auf religiöses und theologisches Selbstverständnis hinterfragt werden.

Von Gottesbildern und religiöser Identität ...

Inhaltlich wird auf fünf Themenbereiche fokussiert. So stellt ein Bereich Fragen wie "Was ist eigentlich Religion? Was bedeutet Gott im Kontext einer multikulturellen Gesellschaft?". Der zweite Bereich hat Religion in Inklusions- und Exklusionsprozessen zum Inhalt. "Hier werden unter anderem Punkte wie Migration und Grenzüberschreitung zentrale Aspekte sein", so Appel.

... bis hin zu Hermeneutik, Wertewandel und Recht

Zwei weitere Forschungsfelder, die im Rahmen der dreijährigen Plattform behandelt werden, sind zum einen die Hermeneutik religiöser Texte - "Wie werden diese Texte und ihr 'säkularisiertes Erbe' von verschiedenen sozialen Gruppen gelesen und verstanden?" - und zum anderen der Einfluss von Religion auf sich verändernde gesellschaftliche Wertesysteme. Der fünfte und letzte Bereich dreht sich um rechtliche Aspekte religiöser Transformationsprozesse.

Forschung und Lehre

Neben konkreten Teilprojekten, regelmäßigen Workshops und Diskussionsveranstaltungen sowie einem abschließenden Symposium sollen auch Lehre und Nachwuchsförderung nicht zu kurz kommen: Geplant sind eine Ringvorlesung im Wintersemester 2010/11, ein interdisziplinäres DissertantInnenseminar im darauffolgenden Sommersemester, die Betreuung und Begleitung von Diplomarbeiten und Dissertationen im Themenbereich der Plattform sowie langfristig die Einreichung eines Initiativkollegs. (br)

Forschungsplattformen werden von der Universität Wien zur Anschubförderung besonders innovativer fächerübergreifender Forschungsvorhaben eingerichtet. Die interdisziplinäre Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary European Society" ist eine Kooperation der Katholisch-Theologischen Fakultät, der Evangelisch-Theologischen Fakultät, der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft sowie der Fakultät für Sozialwissenschaften. Das dreijährige Forschungsvorhaben startete im Jänner 2010 und wird von Ao. Univ.-Prof. DDr. Kurt Appel vom Institut für Fundamentaltheologie koordiniert.