Ein Tag in der Großstadt digital gemappt

"Türkenbefreiungsfeiern", NS-Besuch und Kommunistenkino – wie passt das zusammen? Mithilfe einer digitalen Karte deckt Simon Ganahl vom Institut für Germanistik Beziehungsmuster auf und macht ein Mai-Wochenende 1933 in Wien zum Fallbeispiel für medienhistorische Analysen.

Im Karl-Marx-Hof wird die demokratische Zukunft des Roten Wiens bejubelt, die "Türkenbefreiungsfeier" der Heimwehren im Schönbrunner Schlosspark erinnert an die Souveränität Österreichs, nationalsozialistische Vertreter propagieren auf einer Gegenveranstaltung in der Engelmann-Arena das großdeutsche Reich: An diesem Mai-Wochenende 1933 liegt der politische Umbruch in der Luft, aber noch ist fast alles möglich in Wien.

Die Zukunft von damals ist heute schon Vergangenheit, und wie der schwelende Konflikt ausgeht, ist bekannt: Nach vier Jahren austrofaschistischer Diktatur folgte der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Wie es aber dazu kam und vor allem welche Rollen die Medien dabei spielten, untersucht der Medien- und Literaturwissenschafter Simon Ganahl in seinem Mapping-Projekt "Campus Medius".

Zur gleichen Zeit, am andern Ort

James Joyces "Ulysses" oder Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway", Andrej Belyjs "Petersburg" oder Walter Ruttmanns "Berlin", der Tag in der Großstadt ist eine wiederkehrende Raumzeit modernistischer Kunstwerke – davon inspiriert hat Ganahl 24 Stunden in Wien, am Wochenende des 13. und 14. Mai 1933, ausgewählt und in einer digitalen Map dargestellt.

Das Ergebnis ist "Campus Medius": 15 medienhistorisch aufgeladene Ereignisse sind auf einer interaktiven Wienkarte und einer Zeitleiste verzeichnet. Unterstützt durch farbliche Icons und historische Dokumente (Filme, Bilder, Audiodateien und Texte), wird gezeigt, was zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen politischen Kontexten passierte.

Kommunikationsdesignerin Mallory Brennan hat sich für die Gestaltung der interaktiven Karte "Campus Medius" an der visuellen Kommunikation des Wiener Volks- und Arbeiterbildners Otto Neurath orientiert. Die menschlichen und nicht-menschlichen Akteure der repräsentierten Ereignisse sind mit Icons gekennzeichnet. Deren Farbgebung offenbart den politischen Hintergrund: rot steht für kommunistische oder sozialdemokratische, grün für austrofaschistische, braun für nationalsozialistische und blau für bürgerliche AkteurInnen.

Schauplatz politischer und medialer Inszenierung

Doch warum ist ausgerechnet dieses Wochenende interessant? "Die wiederkehrenden 'Türkenbefreiungsfeiern', die an die 'Verteidigung des christlichen Abendlandes' im Jahr 1683 erinnerten, wurden 1933 stark für politische Zwecke instrumentalisiert – und medial sehr heftig inszeniert", erläutert Ganahl.

Für den sogenannten Chronotopos, also die "Raumzeit", die Ganahl erforscht, sind aber nicht nur die politischen Festakte relevant, sondern eine Vielzahl medialer Ereignisse: An diesem Wochenende wurde etwa das Mussolini-Stück "Campo di Maggio" im Burgtheater aufgeführt; Fritz Langs Film "Das Testament des Dr. Mabuse" – in Deutschland von Goebbels verboten – feierte Premiere in Wien; und im Friedensbrückenkino flimmerten Klassiker des kommunistischen Kinos über die Leinwand.


Die berühmteste Sequenz aus Sergej Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" (1925) zeigt, wie ArbeiterInnen und BürgerInnen aus Odessa vor Schüssen fliehen. U.a. dieser Film wurde am 13. Mai 1933 vom Bund der Freunde der Sowjetunion im Friedensbrückenkino in Wien vorgeführt. (Quelle: Sergej Eisenstein: Panzerkreuzer Potemkin. Das Jahr 1905. DVD. München: Transit Film 2007)
Weitere Videos zum Projekt "Campus Medius" gibt es im Vimeo-Kanal des Projekts.

Mit Theorie …

Dieses "Ensemble heterogener Ereignisse" versucht Ganahl zu verknüpfen und greift dabei auf die Akteur-Netzwerk-Theorie des französischen Soziologen Bruno Latour zurück. "Jede Handlung ist ein Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren" – lautet der zentrale Grundsatz dieser Theorie. Simon Ganahl erklärt sie im Gespräch mit uni:view am Beispiel der konkreten Interviewsituation: "Hier sind nicht wir als zielgerichtete Subjekte die AkteurInnen, sondern unsere Stimmen, die sprechen, die Hände, die gestikulieren, der Abstand regulierende Tisch ebenso wie der Stift, der es mir erlaubt, Dinge hervorzuheben."

Doch warum führen wir ein Interview so, wie wir es führen? "Es gibt eine Praxis, die sich kulturell verfestigt hat: Der Abstand zwischen uns ist so geregelt, dass wir einander verstehen, aber dennoch Intimität wahren, die Tür ist geschlossen, wir sitzen uns am Tisch gegenüber – Michel Foucault bezeichnet solche etablierten Muster bzw. 'patterns of relations' als Dispositive."

… zur konkreten Analyse


Von der Interviewsituation am Institut für Germanistik zurück in das Jahr 1933: Die verschiedenen Ereignisse bilden in Ganahls Chronotopos Akteur-Netzwerke. Der Kitt, der die Akteure zusammenhält, sind allerdings sogenannte Dispositive der Mediation. Angelehnt an Foucault analysiert Ganahl die Konzepte der Souveränität, Disziplinarität sowie Gouvernementalität und denkt diese Verknüpfungstypen der westlichen Moderne medienwissenschaftlich weiter: Es gilt zu untersuchen, inwiefern Verstand anhand souveräner Zeichen gebraucht, Lebendiges in prüfenden Blicken festgehalten und Stimmen in gelenkten Sendungen erhoben werden.

Die Heimwehren begehen ihre "Türkenbefreiungsfeier" vor barocker Kulisse im Schönbrunner Schlosspark. Heimwehr-Führer Ernst Rüdiger Starhemberg steht vor Karbon- und Kondensatormikrofonen; zu seiner Linken ein Techniker von Radio Wien mit Kopfhörern und ein Mann mit Tirolerhut und Fotokamera; inmitten der Heimwehr-Truppen ein Übertragungswagen mit einer Filmkamera auf dem Dach; im Hintergrund die Gloriette. "Die medientechnischen Akteure drängen regelrecht in den Vordergrund und machen auch tatsächlich einen Unterschied. Die Handlung würde jedenfalls anders verlaufen, wenn sie nicht da wären", so der Medienwissenschafter Simon Ganahl. (Foto: Bildarchiv Austria, Pf 15.104 C9)

Die Zukunft von Campus Medius

Ganahl weiß auch schon genau, in welche Richtung sich "Campus Medius" entwickeln soll: "Ich habe in einer Reihe von Lehrveranstaltungen an den Universitäten Wien, Zürich, Liechtenstein sowie der Fachhochschule Vorarlberg und zuletzt an der UCLA in Kalifornien Studierende aufgefordert, ihre individuellen Medienerfahrungen anhand konkreter Frageschritte zu kartographieren", erzählt Ganahl. "Campus Medius" soll zu einer digitalen Plattform weiterentwickelt werden, auf der Medienerfahrungen kollaborativ gemappt werden können. "Ich hoffe, in dieser Fülle an qualitativen Daten mediale Relationsmuster entdecken zu können, die Theorie also von unten nach oben, im Bottom-Up-Approach, zu entwickeln." Und genau darin liegt für Ganahl das eigentliche Potenzial der Digital Humanities. (hm)

Mit den Digital Humanities kam Simon Ganahl erstmals in New York, während eines vom FWF geförderten Aufenthalts an der New School, in Berührung. "In den Digital Humanities, so wie ich sie in den USA kennenlernte und seither praktiziere, geht es nicht nur darum, anhand von digitalen Medien Forschungsergebnisse zu kommunizieren, sondern auch um eine präzise Operationalisierung geisteswissenschaftlicher Begriffe." Gemeinsam mit den New Yorker KollegInnen ist auch "Campus Medius" entstanden. Ab 2017 soll die Website auf Servern des ZID der Universität Wien gehostet und die historischen Dokumente über Phaidra archiviert werden. (Foto: privat)

Das Projekt "Campus Medius" unter der Leitung von Mag. Dr. Dr. Simon Ganahl vom Institut für Germanistik der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät läuft seit März 2015 bis Februar 2018 und wird durch APART, einem Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, unterstützt.