Dunkle Materie in der Krise

In einem gemeinsamen Projekt untersuchen Gerhard Hensler vom Institut für Astronomie und Pavel Kroupa (Universität Bonn) sogenannte Gezeiten-Zwerggalaxien. Die sind in jenen großen Materieauswürfen (Gezeitenarmen) zu finden, die beim Verschmelzen zweier Galaxien entstehen. Doch jeder Schritt in Richtung besseres Verständnis der Gezeitenzwerge bedeutet für die beiden Sternforscher, sich mehr und mehr von einer Theorie zu entfernen, die in der Astronomie fast schon ein Dogma ist: In ihrer aktuellen Publikation stellen sie die Existenz der Dunklen Materie in Frage.

In Douglas Adams Science-Fiction-Reihe "Per Anhalter durch die Galaxis" errechnet ein Riesencomputer die Zahl "42" als Erklärung für "das Leben, das Universum und den ganzen Rest". Da dieses Ergebnis aber alles nur noch rätselhafter macht, wird ein neuer Computer gebaut: Er soll die Frage finden, die zur Antwort passt.

Mit dem Konzept der "Kalten Dunklen Materie" verhält es sich zurzeit ähnlich: "Die Mehrzahl der AstronomInnen ist felsenfest davon überzeugt, dass sich 'das Universum und der ganze Rest' nur mit der Existenz von Cold Dark Matter (CDM) erklären lässt - das ist Materie, die nicht direkt beobachtbar ist, aber die Masse im Universum bei weitem dominiert und gravitativ mit sichtbarer Materie wechselwirkt, ohne sich wie diese zu verhalten", sagt Gerhard Hensler vom Institut für Astronomie. Seit den 1970er Jahren wird - bisher ohne Erfolg - nach den unsichtbaren Teilchen gesucht. Das CDM-Modell selbst stellen hingegen nur wenige in Frage.

Was das Universum zusammenhält

"Die Idee der Dunklen Materie hat sich derart festgesetzt, dass viele keine Kritik daran akzeptieren", so der Astrophysiker weiter. Auf der einen Seite kann er diese Haltung durchaus nachvollziehen: "Auf großen Skalen funktioniert die Theorie ja auch wunderbar. Wir rechnen in unseren numerischen Simulationen ebenfalls mit CDM: Es gibt zurzeit keine bessere Erklärung für bestimmte Phänomene, die wir zwar beobachten, aber nicht allein mit der Masse der sichtbaren Materie erklären können."

Dazu gehört u.a. die Tatsache, dass Galaxien so schnell rotieren, dass die Sterne darin nach den Gesetzen der Fliehkraft eigentlich auseinanderfliegen müssten. Da sie das aber nicht tun, wurde die Kalte Dunkle Materie ins Spiel gebracht: Sie soll mit ihrer Masseanziehung die Galaxien zusammenhalten.
"Auf der anderen Seite machen wir es uns mit der Annahme dieser hypothetischen Dunklen Materie sehr einfach", fährt Hensler fort.

Zweifel verdichten sich

Zu hinken beginnt das CDM-Szenario, sobald man sich auf kleine Skalen begibt - und etwa, wie Hensler und sein Bonner Kollege Pavel Kroupa, Satellitengalaxien untersucht, die um unsere Milchstraße kreisen: "Hier passen die Vorhersagen vorne und hinten nicht mit den Beobachtungsdaten überein." Da sich die Zweifel mehren, bemühen sich AstronomInnen auf der ganzen Welt derzeit darum, ihre "42" zu retten.

Nicht so Hensler: "Die Wissenschaft lebt von ständiger Diskussion und dem konstanten Austausch von Argumenten. Wenn Gegenargumente widerlegt werden können, umso besser: Damit wird eine bestimmte Hypothese ja nur erhärtet", sagt er: "Darin sehe ich unseren Auftrag als WissenschafterInnen: Die Wahrheit herauszufinden und nicht an einem Dogma festzuhalten."

Fünf Widersprüche

In einer aktuellen Publikation im Journal "Astronomy und Astrophysics" präsentieren Hensler und Kroupa zusammen mit KollegInnen aus Deutschland, Frankreich und Australien nun fünf Widersprüche, die das Dunkle-Materie-Modell vor massive Probleme stellen. Die Ergebnisse basieren auf Beobachtungsdaten von der Milchstraße, dem Andromeda-Nebel sowie von 60 Satellitengalaxien.

Einer dieser Widersprüche ist die Diskrepanz zwischen den errechneten und den beobachteten Masse-Leuchtkraft-Verhältnissen in Satellitengalaxien: Nach dem CDM-Szenario sollten sie z.B. umso heller leuchten, je mehr Dunkle Materie sie enthalten - weil Dunkle Materie sichtbare Materie anzieht. "Die Ergebnisse unserer Parameterstudie weichen jedoch eindeutig von den Vorhersagen der Simulationen ab", so Hensler.

Weiters sollten dem Modell zufolge mindestens 1.000 Satellitengalaxien um unsere Milchstraße und den Andromeda-Nebel kreisen. "Tatsächlich sehen wir aber nur 25, und die sind nicht zufällig verteilt wie die Theorie vorhersagt, sondern bilden eine Art Scheibe." Deshalb bevorzugen die beiden Wissenschafter die These, dass diese Zwerggalaxien als Gezeitengalaxien entstanden sind, wie sie aktuell in einem gemeinsamen DFG-Projekt untersuchen. Die Entwicklung der Satellitengalaxien selbst ist Thema eines laufenden FWF-Projekts von Hensler und seiner Forschungsgruppe am Institut für Astronomie.

Suche nach Alternativen

Auch weitere Beobachtungen, wie z. B. Schwankungen in der Rotationkurve von Galaxien, können mit dem CDM-Modell nicht erklärt werden und verstärken die Zweifel an den mysteriösen Teilchen, von denen sich aber auch Gerhard Hensler nicht leichtfertig verabschieden würde: "Wir können mit der Dunklen Materie viele kosmische Phänomene erklären. Aber wir wissen nicht, woraus sie besteht und weshalb etliche Vorhersagen nicht erfüllt werden - kurzum: Die Theorie lebt von Beobachtungsfakten. Wir müssen anfangen, Alternativen ernsthaft in Erwägung zu ziehen."

Eine solche Alternative wäre die Anpassung der Newtonschen Gravitationstheorie - wie es die VertreterInnen der Modifizierten Newtonschen Dynamik (MOND-Theorie) versuchen. "Vermutlich liegt die Ursache sogar noch tiefer in den Grundfesten unserer Physik", so Hensler. Noch sind viele AstrophysikerInnen guter Hoffnung, im Large Hadron Collider (LHC) im CERN eine Elementarteilchensuppe erzeugen zu können, in der sich die Dunkle Materie endlich nachweisen lässt. (br)

Das Paper "Local-Group tests of dark-matter Concordance Cosmology: Towards a new paradigm for structure formation?" (P. Kroupa, B. Famaey, K. S. de Boer, J. Dabringhausen, M. S. Pawlowski, C. M. Boily, H. Jerjen, D. Forbes, G. Hensler, A. Del Popolo, M. Metz) erschien am 15. November 2010 im Journal "Astronomy and Astrophysics".

Programmtipp:
"Rätsel Dunkle Materie. Neue Studien stellen ihre Existenz in Frage"

mit Gerhard Hensler (Astrophysiker, Universität Wien), Arnold Benz (Astrophysiker, ETH Zürich) und Simon White (Kosmologe, MPA Garching)
Donnerstag, 25. November 2010, 21 Uhr
3sat, Sendung "scobel"
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