Die Phase der großen Erwartungen

Eine Lehre machen oder doch die Matura? Das Ende der Schulpflicht verlangt Entscheidungen. Wie Jugendliche der Neuen Mittelschule in dieser Phase mit Erwartungen von Familie, Schule und Gesellschaft umgehen, untersucht das Institut für Soziologie im aktuellen Projekt "Wege in die Zukunft".

Die letzten Sommerferien stehen vor der Türe, bevor sich für die SchülerInnen der Abschlussklasse einer Neuen Mittelschule (NMS) vieles ändert. Ob sie nach Abschluss der Schulpflicht eine Lehre beginnen oder weiter die Schule besuchen, entscheiden sie oftmals nicht alleine. Eltern, LehrerInnen und FreundInnen – viele Stimmen wollen mitreden. Das Projekt "Wege in die Zukunft" des Instituts für Soziologie lässt Jugendliche ihre Sicht der Dinge erzählen und untersucht in einer Langzeitstudie, was Entscheidungen beflügelt und was sie hemmt.
 
Instituts- und Projektleiter Jörg Flecker möchte mit seinem Team von der Universität Wien mehr über Beweggründe der Jugendlichen, ihren Alltag in Neuen Mittelschulen und vor allem über ihren weiteren Bildungs- und Berufsweg erfahren. Über den relativ neuen Schultyp, der in der Praxis erst seit 2015 existiert, und seine SchülerInnen weiß man bis jetzt noch wenig. "Welche bildungspolitischen Aktionen hilfreich sind, wissen wir erst, wenn wir jene fragen, bei denen sie wirken sollen", so Yuri Kazepov, der in EU-Projekten zu Bildungsübergängen arbeitet. Gefragt werden deshalb Jugendliche, die die Abschlussklasse einer Neuen Mittelschule in Wien besuchen. Über fünf Jahre hinweg sollen jährliche Interviews ein umfassendes Bild davon ergeben, welche Berufs- und Bildungswege die SchülerInnen einschlagen.

Zwischen Gesellschaft und Familie

Bei der Konzeption der Fragen stand vor allem die Vergesellschaftung im Mittelpunkt: Dazu zählen neben der Integration ins Bildungssystem auch Zugehörigkeitsgefühle und Geschlechterverhältnisse. Jungen und Mädchen stehen vor denselben Herausforderungen, werden aber oft unterschiedlich behandelt. Und auch die Vererbung von Bildung ist in Österreich nach wie vor stark ausgeprägt.

"Nicht für alle Familien ist ein Abschluss mit Matura selbstverständlich. Wenn Jugendliche wissen, dass sie zuhause keine Unterstützung bekommen, schließen sie manche Wege aus", erklärt die Familiensoziologin Ulrike Zartler. Selbstexklusion passiere auch, wenn Anforderungen und Wünsche nicht zusammenpassen, etwa wenn die Noten zu schlecht sind oder zu wenig Geld da ist.

Religion als Tabu

Neben Elternhaus und Schule sind auch die MitschülerInnen ein wichtiger Faktor: "Gleichaltrige sind oft glaubwürdiger als Eltern oder offizielle Broschüren. Wenn FreundInnen behaupten, eine Schule sei sehr schwer oder uncool, hat das einen starken Einfluss auf die Schulwahl", erklärt die Bildungssoziologin Veronika Wöhrer. Aus diesem Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen müssen Jugendliche ihren Weg herausfinden – was ihnen nicht immer leicht gemacht wird.

"Jugendliche, die vier Sprachen sprechen, werden nicht besonders wertgeschätzt, weil oft nur Englisch und Französisch zählen", erzählt der Migrations- und Stadtsoziologe Christoph Reinprecht. Auch das Thema Religion ist aufgrund von diskriminierenden Erfahrungen oft ein Tabu: "Ein Schüler erzählte im Interview völlig frei von einer Mutprobe, bei der sie Steine auf eine Polizeistation geworfen haben, aber erwähnt nicht, dass er fünf Mal am Tag betet", so Flecker.

Demographie und Wohlbefinden

In der ersten qualitativen Befragungsetappe, die jährlich wiederholt werden soll, haben die WissenschafterInnen Gespräche mit 107 Jugendlichen geführt. Ergänzt werden diese um einen Fragebogen, der Anfang 2018 erstmals an alle NMS verschickt und von ca. 3.000 Jugendlichen ausgefüllt wurde. Abgefragt werden neben Zukunftsplänen auch die Einstellung zur Schule, der familiäre Hintergrund und das Wohlbefinden der Jugendlichen.

"Selbst mit einer realistischen Ausfallquote ist die Stichprobe groß genug, um auch nach der fünften Befragungsphase noch Aussagen treffen zu können", ist die Leiterin der ersten quantitativen Befragung, Susanne Vogl, überzeugt. Sie kümmert sich um die methodische Weiterentwicklung der Studie und ist über die positiven Rückmeldungen der TeilnehmerInnen erfreut: "Die Jugendlichen schätzen sehr, dass wir sie zu Wort kommen lassen."

Die Mitglieder der Steuerungsgruppe am Institut für Soziologie, die unter der Leitung von Jörg Flecker das Eigenprojekt planen und koordinieren: Christoph Reinprecht, Ana Mijic, Franz Astleithner, Ulrike Zartler, Barbara Mataloni, Susanne Vogl, Jörg Flecker, Andrea Jesser, Maria Pohn-Lauggas, Yuri Kazepov, Maria Schlechter, Veronika Wöhrer. (© Carina Altreiter)

Eigenprojekt mit Kooperationen

Mittlerweile arbeiten rund 70 Studierende, wissenschaftliche MitarbeiterInnen, Postdocs und ProfessorInnen des Instituts für Soziologie bei dem Projekt, das auf Eigeninitiative des Instituts gestartet wurde, mit. Am Ende sollen die Ergebnisse sowohl der Wissenschaft als auch den Schulen selbst zur Verfügung stehen. So wurde etwa auch der Stadtschulrat für Wien als Kooperationspartner gewonnen.
 
Zusätzlich möchte das Institut für Soziologie demnächst einen internationalen wissenschaftlichen Beirat einrichten, der ähnliche Studien aus mehreren Ländern bündelt und deren Ergebnisse vergleicht. Im Fokus stehen aber nach wie vor die Jugendlichen, wie Jörg Flecker betont: "Wir bewerten nicht, ob jemand versucht gute Noten zu bekommen oder Steine auf Polizeistationen schmeißt. Wir versuchen zu verstehen, was die Jugendlichen dazu bringt, so zu handeln." (pp)

Das Eigenprojekt des Instituts für Soziologie "Wege in die Zukunft" läuft seit Sommer 2016 bis voraussichtlich 2021 und wird von einer Steuerungsgruppe aus zwölf am Institut tätigen WissenschafterInnen geplant und koordiniert. Das Projekt findet mit Unterstützung und in Kooperation mit dem Stadtschulrat für Wien, dem Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds, der Arbeiterkammer Wien, dem Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz und dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung statt.