Den Berg verstehen

Wie die meisten Naturkatastrophen lassen sich auch Erdrutsche nur schwer vorhersagen. Jährlich fordern Hangrutschungen weltweit mehrere Tote und verursachen Schäden in Millionenhöhe. Thomas Glade und Rainer Bell vom Institut für Geographie und Regionalforschung haben in einem dreijährigen Forschungsprojekt – gemeinsam mit acht Partnerinstitutionen – ein besonderes Frühwarnsystem für Hangrutschungen entwickelt, das neben neuen technischen Methoden auch die kooperative Implementierung mit den betroffenen AkteurInnen inkludiert.

"Wir können ja mit dem Berghang nicht 'reden', also müssen wir Indikatoren finden, die uns sagen, wie kritisch eine bestimmte Situation ist", erklärt der inhaltliche Koordinator des Projekts "Integrative Landslide Early Warning Systems", Rainer Bell. Das Ziel des im April 2010 abgeschlossenen Projekts unter der operativen Leitung von Thomas Glade war es, mit neuartigen Geotechnologien ein umfassendes Frühwarnsystem für Erdrutsche zu erstellen. Die zentralen Ergebnisse der Forschung sind kürzlich in einer über 250-seitigen Publikation erschienen, die das Forschungsteam um Glade und Bell nun den AkteurInnen – betroffene Gemeinden, Katastrophenschutz, etc. – sowie auch WissenschafterInnen zur Verfügung stellt.

Ein Hang unter der Lupe

Das Frühwarnsystem entwickelten die ForscherInnen an einem Hang in der Schwäbischen Alb (Deutschland), den sie über zwei Jahre mit geo- und informationstechnologischen Methoden analysierten. "Der Berghang in der deutschen Gemeinde Lichtenstein-Unterhausen war für die Test- und Entwicklungsphase des Frühwarnsystems ideal, da er nicht besonders aktiv ist", so Bell: "Wir arbeiten mit Geräten im Wert von rund 300.000 Euro – im Falle eines sehr aktiven Hangs wären sie in der Testphase oft beschädigt worden."

Die WissenschafterInnen "löcherten" den Hang dabei gleich mit mehreren unterschiedlichen Sensoren, um so ein umfassendes Bild von dessen "Befindlichkeit" zu erhalten. Ob und in welcher Geschwindigkeit er sich bewegt, wurde mit speziellen Plastikrohren gemessen, die bis zu 15 Meter tief über den Hang verteilt in die Erde gestoßen wurden. Die Sättigung des Bodens mit Wasser ermittelten u.a. versenkte Saugkerzen. "Ist der Boden vollkommen gesättigt, etwa nach starken Regenfällen, entsteht Wasserdruck, den die Sonde misst. Ist der Druck sehr hoch, kann dies zu Hangversagen führen", erklärt der Geograph Bell.

Neuartige Messmethoden

Da der Feuchtigkeitsgehalt des Bodens ausschlaggebend für eine mögliche Hangrutschung ist, wurde dieser zusätzlich mit einem neuen geoelektrischen Verfahren ermittelt. An neun verschiedenen Standorten in drei unterschiedlichen Tiefen brachten die WissenschafterInnen Bodenfeuchtesensoren (Saugkerzen und TDR-Sonden) an, um die geoelektrischen Ergebnisse zu prüfen. Die ferngesteuerten Detektoren sendeten alle zwei Stunden automatisch die Werte an das Computersystem, wo alle Daten gesammelt und ausgewertet wurden. Weiters sammelten die Erdrutsch-SpezialistInnen ganz klassisch Daten über eine Klimastation, darunter Niederschlag, Temperatur, Schnee- und Windverhältnisse.

Die Befindlichkeit des Hangs

Glade und Team fanden heraus, dass der Hang bis in eine Tiefe von 15 Metern saisonal aktiv ist. Diese Bewegung wird hauptsächlich durch die Schneeschmelze aktiviert. Die Niederschläge im Sommer verursachen Hangbewegungen in rund acht Meter Tiefe. "Pro Jahr rutscht der Berghang um circa zwei bis drei Millimeter nach unten. Das ist grundsätzlich recht langsam, aber dennoch genug, um in einem Haus am Hang Risse entstehen zu lassen", erklärt Geograph Bell: "Wir sehen derzeit jedoch keine Anzeichen dafür, dass der Hang in nächster Zeit noch aktiver wird."

Das Besondere am neu entwickelten Frühwarnsystem ist nicht nur die Bündelung verschiedener Geotechnologien zur Hangsituation, sondern auch die Automatisierung in der Datenübertragung. "Im Zuge der Hangerfassung haben wir Schwellenwerte für kritische Situationen berechnet. Werden diese überschritten, schaltet die Ampel des Frühwarnsystems automatisch auf Gelb. ExpertInnen erhalten daraufhin eine SMS, um die Werte zu überprüfen. Folglich können die AkteurInnen vor Ort Maßnahmen setzen", erklärt Rainer Bell den Ablauf des Frühwarnsystems, das auch via Internet für KundInnen und WissenschafterInnen zugänglich ist. Die Entwicklung erfolgte in enger Zusammenarbeit mit SozialwissenschafterInnen, um zu gewährleisten, dass das Frühwarnsystem nicht am Bedarf vorbei entwickelt wird. Gemeinsam wurde ein Handbuch mit einem Leitfaden für den effektiven Betrieb von Frühwarnsystemen inklusive Merksätzen herausgegeben.

Auf zu weiteren Hängen

Nach der umfassenden Entwicklungs- und Testphase kann das neuartige Frühwarnsystem nun auch an aktiveren Hängen eingesetzt werden. In Südtirol ist das Forschungsteam bereits in Kontakt mit der Provinzverwaltung, die sich sehr interessiert am neu entwickelten Frühwarnsystem zeigt. (td)


Das Projekt "Integrative Landslide Early Warning Systems" (ILEWS) lief von Mai 2007 bis April 2010. Die inhaltliche Projektleitung hatte Univ.-Prof. Dipl.-Geogr. Dr. Thomas Glade, Leiter des Instituts für Geographie und Regionalforschung, die inhaltliche Projektkoordination lag bei Dr. Rainer Bell vom selben Institut. Gefördert wurde ILEWS vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung, die offizielle Projektleitung lag bei der Universität Bonn.