Das "Navi" der menschlichen Entwicklung

Es gibt noch immer viele Krankheiten ungeklärter Ursache. ForscherInnen vermuten, dass häufig die "Entwicklungskanalisierung" gestört ist – wobei über diesen Mechanismus erstaunlich wenig bekannt ist. Der Biologe Philipp Mitteröcker ist diesem Rätsel der Evolution auf der Spur.

Die Natur überlässt bekanntlich wenig dem Zufall. Wie wir uns vom Embryo zum Erwachsenen entwickeln, ist daher genau vorgegeben. Entfernen wir uns z.B. aufgrund von äußeren Einflüssen oder Krankheiten von diesem "Soll-Pfad" der Entwicklung, greifen bestimmte Mechanismen, um uns wieder auf den richtigen Weg zurückzuführen. Also alles gut geregelt – unser "Navi" sorgt dafür, dass unser Körper den richtigen Weg nicht aus dem Auge verliert. 

"Das wächst sich aus"

"Man kennt das Phänomen, dass Kinder aufgrund von Krankheit oder Hormonmangel langsam wachsen – aber sobald diese 'Hemmer' beseitigt sind, wieder in die Höhe schießen", nennt der Biologe Philipp Mitteröcker das "Aufholwachstum" als Beispiel. "Auch ein durch die Geburt etwas verformter Schädel wächst sich bald wieder aus." 

Der Spruch des "Auswachsens" zeigt, dass dieses Phänomen schon lange bekannt ist – obwohl nicht jedes Auswachsen tatsächlich mit Kanalisierung zu tun hat. Doch woher weiß unser Körper z.B. wie hoch er wachsen soll? Hinter welchen Phänomenen ein Soll-Pfad den Weg vorgibt und wie diese Mechanismen genau funktionieren, untersucht Mitteröcker am Department für Theoretische Biologie der Universität Wien im Rahmen eines FWF-Projekts.

Cranium als Modell-Organismus

Dafür bedient er sich eines ganz besonderen Modell-Organismus': Dem menschlichen Kopf (Cranium). "Das Cranium ist eine der komplexesten Strukturen unseres Körpers. Der Schädel besteht aus rund 30 Knochen, die alle exakt aufeinander abgestimmt sind, und er umfasst viele funktionell und entwicklungsbiologisch unterschiedliche Bestandteile – von den Sinnesorganen über den Beginn des Verdauungstraktes bis hin zum Gehirn", so der Forscher und betont: "Präzises und koordiniertes Wachstum sind hier also besonders wichtig." 

Ein Beispiel für eine Krankheit, bei der die Kanalisierung eine Rolle spielt, ist das Fetale Alkoholsyndrom. Es zeigt sich bei Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft viel Alkohol konsumieren. "Studien zeigen, dass sich das Syndrom sehr unterschiedlich auf das Gehirn der Kinder auswirkt. Der Alkohol schwächt als Nervengift die Kanalisierung, wodurch es zu einer höheren Variabilität in der Entwicklung kommt – die Entwicklungskontrolle bricht quasi zusammen", so Mitteröcker. (Foto: Matthias Ripp/flickrCC BY 2.0)

Gesichtschirurgie als Beispiel

Anhand von Oberflächenscans, Computertomographie und genetischen Daten geht der Biologe der Frage nach, wie die Wachstumsprozesse genau reguliert werden und welche genetische Basis dahinter liegt. Dabei steht laut Mitteröcker eine konkrete klinische Anwendung im Fokus des Projekts: "Ist der Unterkiefer so klein, dass die Zähne nicht ineinandergreifen – und eine Zahnspange als Therapie nicht ausreicht –, wird er operativ nach vorne gesetzt. Diese gesichtschirurgische Behandlung bezeichnet man als mandibuläre sagittale Split Osteotomie." 

Timing ist alles

Oftmals bildet sich der Unterkiefer nach diesem Eingriff wieder zurück – das bedeutet, die Kanalisierung führt auf einen unerwünschten Soll-Pfad. "Wir untersuchen, ob dieser 'Rückfall' eventuell durch einen besser getimten Behandlungsplan verhindert werden kann. Denn unsere Vorstudien haben u.a. gezeigt, dass zu unterschiedlichen Zeiten in der Entwicklung die verschiedenen morphologischen Strukturen unterschiedlich stark kanalisiert werden", erzählt der Experte. Das könnte man sich in der Therapie zunutze machen. 

Wie kann es sein, dass in unserem Körper alles so präzise aufeinander abgestimmt ist und jeder Körperteil weiß, wie er sich entwickeln soll? "Wir versuchen, diese Mechanismen zu verstehen. Dieses Wissen kann dazu beitragen, Krankheiten, denen eine Störung einer solchen Kanalisierung zugrunde liegt, besser zu therapieren", betont der Biologe der Uni Wien. (Foto: Universität Wien)

Laterale Schädelröntgen

Anhand verschiedener Daten – darunter auch viele historische – entwickelt Mitteröcker mathematische Modelle, die schlussendlich in einer umfassenden Theorie enden sollen. "Wir schauen uns vor allem frühere langjährige Röntgenstudien an: In den 1950er Jahren wurde eine Gruppe ausgewählt, deren Schädel von Geburt an in regelmäßigen Abständen bis ins Erwachsenenalter hinein lateral geröntgt wurden – also Röntgen, wie es z.B. auch die Zahnärztin macht", so der Projektleiter. 

Von Zwillingen lernen

Da solche Langzeitstudien mit Röntgenaufnahmen heute nicht mehr durchgeführt werden, sieht Mitteröcker es als Glücksfall für die Forschung an, auf diese Daten zurückgreifen zu können. "Besonders spannend sind dabei historische Daten aus einer Zwillingsstudie, da wir dadurch etwas über die Vererbbarkeit bzw. den Einfluss der Gene auf die Kanalisierung sagen können", freut sich der Wissenschafter, der neben den historischen Daten auch dreidimensionale CT-Daten, Knochensammlungen und Röntgenaufnahmen, die ihm KieferorthopädInnen zur Verfügung stellen, in seine Forschungsarbeit aufnimmt. 

Schnittstelle zwischen Evolutions- und Entwicklungsbiologie

Der Biologe verbindet in seinem Projekt nicht nur theoretische und empirische Arbeit, sondern auch klassische entwicklungsbiologische Ansätze mit evolutionsbiologischen. "Das sind zwei ganz unterschiedliche Zugänge: Während die einen anhand weniger Individuen qualitative Mechanismen erforschen und Variabilität eher vernachlässigen, untersuchen EvolutionsbiologInnen primär die Variabilität zwischen Individuen und Populationen", erklärt Mitteröcker.

Seine Forschung – und das Department für Theoretische Biologie als solches – bilden hier eine wichtige Schnittstelle. "Komplexe Mechanismen wie die Kanalisierung können wir nur verstehen, indem wir innovative Methoden entwickeln und die Evolutions- mit der Entwicklungsbiologie verbinden." (ps)

Assoz. Prof. Mag. Dr. Philipp Mitteröcker, Privatdoz. vom Department für Theoretische Biologie der Universität Wien leitet das FWF-Projekt "Entwicklungskanalisierung im menschlichen Kopf", das von 1. Oktober 2016 bis 30. September 2019 in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien und der Bernhard-Gottlieb-Universitätszahnklinik in Wien läuft. ProjektmitarbeiterInnen sind Nicole Grunstra, Anne Le Maître und Sonja Windhager.