Das gute Leben
| 07. Oktober 2015Die historischen Hintergründe von Yoga, Ayurveda und indischer Alchemie stehen im Mittelpunkt von Dagmar Wujastyks ERC-Projekt. "Das Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde der Universität Wien bietet ideale Voraussetzungen für meine Studien zur indischen Medizintradition", sagt sie.
"Über Grenzen gehen und den eigenen Horizont erweitern" wollte Dagmar Wujastyk, als sie sich entschloss, das Fach Indologie zu belegen. Schon nach dem ersten Studienjahr reiste sie nach Indien, und das gleich für sechs Monate: "Das war schon ein Kulturschock für mich. Ich hatte öfters Probleme als weibliche Reisende, da ich einige der kulturellen Unterschiede nicht erwartet hatte."
"Wenn ich nicht Indologie studiert hätte, dann Medizin", meint sie zurückblickend. In ihrem Studium verband sie dieses Interesse mit der Liebe zu alten Kulturen und Indien und dissertierte 2010 zu "Medical ethics in the Sanskrit medical classics" an der Universität Bonn. Anschließend hat sie an der Cambridge University und der Universität Zürich geforscht und gelehrt.
Kosmologie und Philosophie
Heute blickt Dagmar Wujastyk, die mit einem hochdotierten ERC Starting Grant von Zürich ans Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde der Universität Wien gekommen ist, auf zahlreiche Indienreisen zurück. Dort forscht sie in Archiven, Bibliotheken, ayurvedischen Kliniken und Universitäten, wo sie neben dem Studium alter medizinischer Lehrwerke auch Interviews mit ÄrztInnen und medizinischen AkteurInnen führt.
Die Indologin ist fasziniert von den oft mehrere tausend Jahre alten medizinischen Werken aus Indien. Im Gegensatz zu den Standardwerken der heutigen Schulmedizin beschäftigen sich die alten indischen Medizintexte auch mit Kosmologie, philosophischen Themen und dem sogenannten "guten Leben". Mit ihrem Forschungsgebiet gehört die ERC-Preisträgerin international gesehen zu einer recht kleinen Gruppe an ExpertInnen.
Nicht Wellness, sondern Medizin
Ayurveda ist heute in Europa breit bekannt, meist in Zusammenhang mit dem Wellness-Trend. Hier gibt es allerdings oft nur mehr wenige Anknüpfungspunkte zur indischen Medizintradition. "Tatsächlich ist Ayurveda ein über 2.000 Jahre altes Diagnose- und Behandlungssystem, basierend auf historischen Texten, die sich über die Jahrhunderte hinweg weiter aufbauen – das heißt, Experten haben ältere Inhalte zusammen gefasst, neue Erkenntnisse hinzugefügt, usw. – und das bis heute", so Wujastyk. Die alten Schriften, die sie analysiert, enthalten z.B. Rezepte und Behandlungsmethoden. "Und heute wird auch die moderne Bio-Medizin in die Ayurveda-Ausbildung in Indien mit einbezogen", berichtet die Expertin für die Geschichte der südasiatischen Medizin.
Das Foto zeigt ein Manuskript eines Sanskrittexts über Medizin, der ins 10. Jahrhundert datiert wird – das Manuskript selbst ist jünger. Bis dato wurde der Text noch nicht übersetzt.
Die alten Texte aus der Ayurveda-Tradition sind in Sanskrit (Alt-Indisch) verfasst, das Dagmar Wujastyk beherrscht – neben dem eingehenden Studium dieser Dokumente macht sie auch viele (Erst-)Übersetzungen. In ihrem ERC-Projekt untersucht sie konkret, inwiefern der gegenseitige Austausch zwischen Ayurveda, der indischen Alchemie und des Yoga in der mittelalterlichen und frühmodernen Periode zur heutigen medizinischen Ausrichtung des modernen Yoga geführt hat.
Suche nach Erlösung
Weniger alt als Ayurveda ist Rasayana ("Wissenschaft der Essenzen"), die indische Alchemie und Iatrochemie, deren ältesten Texte bis ins 10. Jahrhundert zurückreichen. "Die Alchemisten wollten die Essenz der materiellen und der spirituellen Welt in einem Elixier zusammenführen", erklärt die Indologin: "Ihr Langzeitziel war es, die Essenz des Daseins zu finden – der Alchemist wollte durch alchemistische Prozeduren quasi die Erschaffung der Welt reproduzieren."
Sind in den ersten erhaltenen alchemistischen Texten nur wenige Kapitel über Medizin enthalten, werden es im Laufe der Zeit immer mehr. Zeitgleich zum Rasayana entwickelt sich in Indien das Hatha-Yoga: "Diese Art des Yoga ist, anders als frühere Formen, stärker auf den Körper ausgerichtet: So werden Positionen und Atemtechniken entwickelt", erklärt Dagmar Wujastyk.
Einige ExpertInnen für indische Medizintradition vermuten, dass die "Erfinder" des Hatha-Yoga und die indischen Alchemisten möglicherweise dieselben Personen waren. Auch dieser Theorie möchte Wujastyk im ERC-Projekt u.a. nachgehen. "In den historischen Texten wird beschrieben, dass fortgeschrittene Alchemisten die 'absolute Realität' sehen und beeinflussen können, wie etwa durch Wände gehen oder sich unsichtbar machen", erklärt die Indologin: "Derartige übernatürliche Kräfte werden auch in den Überlieferungen zum Hatha-Yoga geschildert." Ob solche Übereinstimmungen auch im Bereich der Medizin in den verschiedenen Traditionen vorliegen, soll nun im Projekt untersucht werden.
2.000 Jahre später
In Indien werden heute sowohl die Bio-Medizin als auch verschiedene indigene Medizintraditionen – dazu gehört auch Ayurveda – staatlich unterstützt und reguliert. Moderne indische ÄrztInnen können also BiomedizinerInnen sein oder aber auch Ayurveda-ÄrztInnen ohne schulmedizinische Ausbildung. Das Ansehen der Ayurveda-ÄrztInnen in der indischen Gesellschaft ist jedoch oft nicht sonderlich hoch: "Sie verdienen wenig, und es herrscht das Vorurteil: Wer das Medizinstudium nicht schafft, wechselt zu Ayurveda", erzählt die Expertin.
Andererseits gibt es auch viele, die mehr Vertrauen in den Ayurveda und besonders in ÄrztInnen mit traditionellem Hintergrund haben als in die Schulmedizin, insbesondere deshalb, weil die Meinung herrscht, dass es bei Ayurveda-Therapien keine unerwünschten Nebenwirkungen gibt. Übrigens haben früher mehr Männer Ayurveda studiert – heute sind es v.a. Frauen, die diesen Beruf ergreifen.
Verbindungen zwischen den einzelnen Praktiken existieren auch heute noch, so finanzieren viele "Yoga-Gurus" ihre Praxis mit dem Verkauf von "uralten, traditionellen" Ayurveda-Produkten, die auch Rasayana-Rezepturen miteinschliessen. "Lässt sich wirklich eine uralte Verbindung zwischen dem Ayurveda, der Alchemie und dem Yoga nachweisen? Oder handelt es sich um eine Neuinterpretation von drei ursprünglich unabhängigen Disziplinen? Das möchte ich in meinem Projekt analysieren", so Wujastyk. (td)
Die Indologin und Expertin für Geschichte der südasiatischen Medizin Dr. Dagmar Wujastyk forscht seit Frühjahr 2015 mit einem 1,4 Mio. Euro dotierten ERC Starting Grant am Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde der Universität Wien zu "Medicine, Immortality, Moksha: Entangled Histories of Yoga, Ayurveda and Alchemy in South Asia".