3-D in die Vergangenheit und in die Zukunft

Gerhard Weber von der Universität Wien arbeitet an einer neuen Methode der virtuellen Anthropologie, die die Computer-Rekonstruktion der Lebensweise, des Verhaltens und der Umwelt unserer Vorfahren sehr erleichtern könnte.

Gerhard Weber bewegt sich vornehmlich in virtuellen Welten. Und nein, er ist weder Berufsblogger, noch Computerwissenschafter. Er gehört der altehrwürdigen Zunft der Anthropologen an. Der stellvertretende Leiter des Departments für Anthropologie ist schon vor Jahren angetreten, das verstaubte Image des Fachs vergessen zu machen. Denn Tasterzirkel, Knochenkleber und Plastilin haben ausgedient. Scans stehen im Mittelpunkt seiner Arbeit, Landmarks und Semilandmarks. Man gewinnt Daten, die in ein Programm einfließen.

Virtuelle Anthropologie? Das ist das, wovon viele KollegInnen seit jeher träumten: Fossile Knochen werden standardisiert vermessen, zusammengesetzt, zurechtgebogen und ergänzt – im Computer, in 3D. WissenschafterInnen rekonstruieren am Rechner frühere Menschenarten, simulieren Wachstumsprozesse und quantifizieren anatomische Merkmale. Modernste Computertomografen und die entsprechende Software machen weit mehr möglich, als physisch am realen Objekt denkbar ist. Aber eben nicht alles, sagt Weber.

Riesenloch klafft

Gerade habe er ein großes, fünf Jahre andauerndes Projekt beendet, erzählt er. Zusammen mit KollegInnen hat der Anthropologe biomechanische Modellierungen von Schädeln gemacht. Die Simulierungen zeigen dort, wo Drücke und Züge am Kopf auftreten, rote, blaue und grüne Farbflecken und verraten – Kennerblick vorausgesetzt –, was passiert, wenn ein Mensch mit den Backenzähnen rechts zubeißt oder eben mit den Schneidezähnen vorne. Weber machte seine Versuche mit Australopethecinen. "Die haben bestimmte Strukturen am Schädel, von denen man nicht genau weiß, wofür sie gebraucht werden." Diese Knochensäulen links und rechts der Nase interessieren Weber. "Die einen haben sie, die anderen nicht. Warum?" sinniert er. "Wir haben also Simulationen gemacht. Unser Job war es, die Geometrie des Fossils zu liefern."


Das Bild zeigt sechs extreme Varianten von Schimpansenschädeln. (Foto: SUNY und Universität Wien)



In der Folge arbeitete Webers Gruppe verstärkt auf dem Gebiet der Biomechanik. "Und da ist mir dann aufgefallen, dass ein Riesenloch zwischen den unterschiedlichen Analyse-Methoden klafft: Einerseits gibt es Technologie, mit denen man Gestalt und Form analysieren kann, mit anderen werden biomechanische Modelle gemacht. Ganz geschickt wäre es allerdings, wenn man die Ergebnisse zusammenführen könnte", sagt Weber. Und ergänzt: "Diese Technologie gibt es nicht. Es scheitert an der grundlegenden Mathematik." Womit wir bei dem sind, was derzeit in der virtuellen Anthropologie noch nicht möglich ist. Aber nicht mehr lange, wenn es nach Weber geht.

Persönliche Meinungen

Wie sich diese fehlende Technologie auswirkt? Weber erinnert sich an eine Konferenz und erzählt: "Ein Kollege hat die Bilder von sechs Schimpansen-Schädeln gezeigt und gemeint: 'Schaut euch an, wie ähnlich die alle ausschauen.' Ich antwortete: Für meinen Geschmack schauen die alle ganz unterschiedlich aus.' Das ist die Crux. Im Moment werden die unterschiedlichen Modelle visuell verglichen, wir haben nur persönliche Meinungen statt objektiver Daten."

Die Anwendungsmöglichkeiten wären vielfältig: "Wir haben begonnen, die Biomechanik von Zähnen zu erforschen, weil man darüber noch gar nichts weiß", sagt der Forscher. Derzeit sei es modern, die Fissuren in den Zähnen zu versiegeln. "Wir haben jetzt aber Experimente gemacht, die zeigen, wie sich das Kauen auf die Backenzähne auswirkt. Ergebnis: Die höchsten Zug-Belastungen treten genau bei diesen Fissuren auf", sagt Weber. All diese unerforschten, mechanischen Vorgänge könnte man mit einem derartigen Programm enträtseln, ist der Wissenschafter überzeugt.

Um zur Evolution zurückzukehren: In der Anthropologie haben ForscherInnen oft nur einen einzigen Zahn zur Verfügung. "Und von dem möchten wir auf möglichst viel rückschließen." Zuerst einmal: Was hat der Zahnträger gegessen? "Eine überaus wichtige Frage", sagt der Anthropologe. "Denn dadurch kann man auf die Umwelt jener Zeit schließen. Unter welchen Umständen haben die Menschen gelebt? Warum waren die einen erfolgreich, die anderen nicht? Wovon haben sich die ausgestorbenen Arten ernährt?" Gerhard Weber arbeitet also an einer neuen Methode der virtuellen Anthropologie, die die Rekonstruktion der Lebensweise, des Verhaltens und der Umwelt unserer Vorfahren sehr erleichtern könnte.