Welches Demokratiemodell haben wir in Österreich?
| 09. Dezember 2016Alexander van der Bellen ist der neue Bundespräsident – oder vielmehr unser "Staatsnotar"? Im Wahlkampf haben beide Kandidaten ein sehr aktivistisches Amtsverständnis artikuliert. Politologe Wolfgang C. Müller beleuchtet im Gastbeitrag, wie weit das "Recht zur Entlassung der Regierung" reicht.
In der österreichischen Verfassung sind seit 1929 zwei mögliche Modelle der Demokratie angelegt: einerseits parlamentarisches System mit dem Staatsoberhaupt als Autorität in Reserve und andererseits semi-präsidentielles System mit dem Staatsoberhaupt als dem zentralen Akteur der Tagespolitik. Mit sehr ähnlichen Verfassungsregeln hat sich Frankreich ab 1958 für die semi-präsidentielle Praxis entschieden (unterbrochen von Perioden der Cohabitation, des "Zusammenlebens", eines Präsidenten mit einer Regierung und parlamentarischen Mehrheit des anderen großen politischen Lagers, in denen die parlamentarische Logik dominierte), während Österreich seit 1929 eine Praxis entwickelt hat, in der die parlamentarische Logik bestimmt.
Staatsoberhaupt als Staatsnotar
Während in Frankreich die Präsidentschaftswahlen den Puls der Demokratie bestimmen, sind es in Österreich die Nationalratswahlen: Es werden Parteien ins Parlament gewählt und parlamentarische Mehrheiten auf Parteienbasis gebildet, welche wieder die Regierungszusammensetzung und -politik bestimmen. Materiell ist die Rolle des Staatsoberhaupts dabei die des "Staatsnotars", dessen wichtigste formelle Kompetenzen in der Praxis so ausgeübt werden, wie es dem parlamentarischen Mehrheitswillen entspricht.
Die parlamentarische Verantwortung der Regierung (über das Misstrauensvotum) dominiert die Ernennungs- und Entlassungskompetenzen des Bundespräsidenten. Diese Praxis geht auf die Interpretation des Amtes des Bundespräsidenten durch die Parteien (die nicht – wie in Frankreich – ihre AnführerInnen als KandidatInnen nominierten, sondern "elder statesmen") und die Amtsführung der bisherigen Bundespräsidenten zurück. Sie wird auch von den BürgerInnen begrüßt (was u.a. in der überzeugenden Wiederwahl der Amtsträger und hoher Zustimmungswerte für sie zum Ausdruck kommt).
Kompetenzen in der Krise
In der Konzeption eines Staatsoberhaupts als Autorität in Reserve ist die materielle Ausübung der stärksten Kompetenzen des Bundespräsidenten – Ernennung und Entlassung der Bundesregierung, Auflösung des Nationalrats – auf Krisensituationen beschränkt, wobei Krise als Staatskrise, in der diese obersten Staatsorgane selbst nicht mehr oder nicht mehr verfassungskonform funktionieren, definiert ist. Solche Krisen wären 1933 (Verfassungsbruch) oder 1938 ("Anschluss") gegeben gewesen. In beiden Fällen versagte der Amtsinhaber. In den mehr als 70 Jahren Zweiter Republik gab es keine solche Situation, die es erforderlich gemacht hätte, dass der Bundespräsident die Autorität in Reserve mobilisiert und die politische Führungsrolle übernimmt.
Alexander van der Bellen vs. Hofer
Wie in jedem Bundespräsidentenwahlkampf wurden auch im gerade beendeten die Kompetenzen und Handlungsoptionen des Bundespräsidenten thematisiert. Alle Kandidaten haben sich dazu geäußert und zum Teil ein sehr aktivistisches Amtsverständnis artikuliert. Während Alexander van der Bellen die Freiheit des Bundespräsidenten bei der Ernennung der Regierung betonte, fokussierte Norbert Hofer auf das Recht des Bundespräsidenten, die Regierung zu entlassen. Diese aktivistische Interpretation des Entlassungsrechts verlangt keine Staatskrise als Anlass einer Entlassung, vielmehr genügen gravierende Differenzen mit der Bundesregierung in politisch-inhaltlichen Fragen.
Ernennung und Entlassung der Regierung
Das Recht zur Ernennung der Regierung nach Nationalratswahlen ist aber nur dann von materieller Bedeutung, wenn (a) keine Partei über eine absolute Mehrheit verfügt, (b) die Präferenz des Bundespräsidenten Einfluss auf jene Parlamentspartei hat, die eine pivotale Position bei der Regierungsbildung einnimmt, die also den Ausschlag für die eine oder andere Mehrheitskoalition gibt, oder (c) der Bundespräsident bereit ist, im Konfliktfall eher den Nationalrat aufzulösen und erneut wählen zu lassen, als eine Regierung gegen seine eigenen Präferenzen zu ernennen. Es gibt freilich keine Garantie, dass in einem neu gewählten Parlament andere Mehrheitsverhältnisse herrschen als im aufgelösten, und sie kann zur Delegitimierung des Bundespräsidenten führen. Die materielle Ausübung der Ernennungskompetenz ist daher nie über das Stadium von Überlegungen und Sondierungen zu den Chancen von Strategie (b) unter Bundespräsident Thomas Klestil hinaus gekommen.
Ein Bundespräsident, der das Recht zur Entlassung der Regierung wahrnehmen möchte, ist gleichzeitig gezwungen, eine neue Regierung zu ernennen. Die bisherige Regierung mit der Weiterführung der Geschäfte zu betrauen, ist in einem solchen Fall keine realistische Option. Diese neue Regierung bedarf zumindest der Tolerierung durch den Nationalrat, dem sie sich innerhalb einer Woche stellen muss. Das Entlassungsrecht des Bundespräsidenten ist daher dann von materieller Bedeutung, wenn (a) die neue Regierung vom Nationalrat akzeptiert wird, oder (b) sich innerhalb einer Woche eine neue Regierung herauskristallisiert, die vom Nationalrat akzeptiert wird und ein (wohl als solches deklariertes) Übergangskabinett ablöst, oder (c) wenn der Bundespräsident bereit ist, im Konfliktfall den Nationalrat aufzulösen und eine Nationalratswahl herbeizuführen, statt eine Regierung gegen seine eigenen Präferenzen zu ernennen.
Wenn keine Staatskrise der Anlass einer Entlassung ist, muss sie, um erfolgreich zu sein, entweder ein Umdenken oder einen Umsturz in einer für die Mehrheitsbildung im Parlament wichtigen Partei hervorbringen oder, wenn es zu Wahlen kommt, zu einer bedeutenden Verschiebung in den Kräfteverhältnissen zwischen den Parteien führen, welchen ihrerseits wieder Umdenken oder Umsturz in Parteien folgen können. Zentrale Voraussetzung wäre wohl aber auch die Partei, die den Bundespräsidenten kandidiert hat, als Nukleus einer alternativen Mehrheit.
Anders als in Frankreich, wo der Staatspräsident offen um ein politisches Mandat für sich und seine Partei kämpft, würde der Bundespräsident in diesem Szenario zu einem Agenten der Parteipolitik, der dies aber wahrscheinlich möglichst wenig hervorkehrt. Das hätte mehr Ähnlichkeit mit der politischen Praxis in Rumänien, das ähnliche Verfassungsbestimmungen wie Frankreich und Österreich hat, als jener in Frankreich und würde einen radikalen Bruch mit der Verfassungspraxis der Zweiten Republik darstellen. Ein solcher Bruch wäre zwar verfassungskonform, dürfte aber weit über das hinausgehen, was sich die Bürgerinnen und Bürger unter einer "aktiven Rolle" des Bundespräsidenten vorstellen.
Zum Autor: Wolfgang Claudius Müller ist Professor für Democratic Governance am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Nach seiner Habilitation 1991 an der Universität Wien lehrte und forschte er unter anderem an den Universitäten Oxford, Bergen und Harvard und war Professor für Politikwissenschaften an der Universität Mannheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen politische Institutionen, Koalitionen, Eliten und Governance. (Foto: Universität Wien)