"Sozialwissenschaften sollten auch gegen eine Zeit denken"
| 27. Juni 2016Big Data, Beschleunigung, globaler Wandel, gesellschaftlicher Umbruch – die Sozialwissenschaften sind gefordert. Was das genau bedeutet, darüber diskutieren Ulrike Felt und Helga Nowotny.
uni:view: Selten zuvor hat sich die Gesellschaft derart schnell gewandelt – Stichwort Social Media, Smartphones, etc. Vor welchen Herausforderungen stehen die Sozialwissenschaften heute?
Helga Nowotny: "Mittendrin und darüber hinaus" beschreibt die Herausforderungen der Sozialwissenschaften meiner Meinung nach sehr gut. "Mittendrin" heißt, dass sich die Sozialwissenschaften intensiver als je zuvor mit einer stark im Umbruch befindlichen Welt befassen. Wir müssen verstärkt in globalen Dimensionen denken und aus dem langen Schatten des Nationalstaates heraus treten.
Das "Darüber hinaus" beschreibt die Tatsache, dass wir in einer "Technosphäre" leben. Wir sind umgeben und durchdrungen von einer wissenschaftlich-technischen Welt, die uns alle beeinflusst, aber die wir genauso mitgestalten müssen. Das andere große Thema ist der Umgang mit Big Data. Da sehe ich große Chancen, aber auch Herausforderungen für die Wissenschaft. Big Data wirft viele Fragen auf, nicht nur jene der Privacy, sondern auch die der Interpretation der Daten.
Ulrike Felt: Das "Mittendrin" ist komplexer denn je, weil Gesellschaften unübersichtlicher geworden sind. Ein Beispiel: Menschen bilden sich heute ihre Meinung nicht nur über die eine Zeitung, die sie regelmäßig lesen, sondern beziehen Informationen in vielen kleinen Stücken von Irgendwoher. Und wir müssen lernen zu erkennen, wie in dieser Vielfalt von Elementen Positionsbildung, Sinnmachung, etc. stattfindet.
Die "Darüber hinaus"-Frage ist für mich in zweierlei Hinsicht wichtig. Zum einen glaube ich, dass die Sozialwissenschaften nicht nur eine Zeit denken und analysieren, sondern manchmal gegen eine Zeit denken sollten. Uns laufend zu fragen, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt, und Gegenentwürfe zu erarbeiten.
Kurz zu Big Data: Wir haben auch hier eine neue Unübersichtlichkeit. Deswegen müssen wir umso mehr die Fragen stellen: Wie sichern wir die Qualität, wenn wir großen Datenmengen gegenüberstehen? Wie bilden wir die Leute so aus, dass sie sich ihrer Verantwortung in dieser neuen Unübersichtlichkeit bewusst sind? Das sind für mich, für die Universitäten, enorme Herausforderungen.
uni:view: Wo findet sich heute Big Data?
Helga Nowotny: Wir sehen eine Privatisierung der Daten. Regelmäßige Zensuserhebungen, die der Staat veranlasst, sind am Verschwinden. Heute verfügen Google, Amazon und Co. über die großen und relevanten Datenmengen. Daten schwimmen in private Firmenhände ab. Damit sind sie der Allgemeinheit entzogen und das halte ich für sehr bedenklich. Etwas Ähnliches erleben wir ja auch in den Life Sciences in den USA. Dort gibt es Firmen wie "Two, Three and Me", die durch ihre Dienste gleichzeitig Daten bekommen, über die sie selbst verfügen.
Ulrike Felt: Da geht es um Lebensinformationen, genetische Daten, usw., die man dann teuer verkaufen kann.
uni:view: Wir leben in einer sogenannten "schnelllebigen Zeit". Sehen Sie das auch so?
Helga Nowotny: Ja, "Zeit und Zeitlichkeit" finde ich ein wichtiges Thema. Meine Generation hatte in den Lebensläufen viel mehr zeitliche Inseln. Da konnte man sich auch mit Dingen beschäftigen, die nicht unbedingt an das nächste Ziel gebunden waren. Mittlerweile gibt es Kurse, wie man einen Lebenslauf zu schreiben hat, um sich selbst entsprechend zu präsentieren. Mir geht es um die Motivation der heutigen Generation, und die speist sich überwiegend aus der Überlegung, ob sich etwas gut im Lebenslauf macht oder nicht. Das setzt sich in der wissenschaftlichen Karriere fort. So produzieren wir dann Mainstream, Mainstream, Mainstream …
Ulrike Felt: Die Beschleunigung ist sowohl für die sozialwissenschaftliche Analyse einer Gesellschaft, als auch für die Sozialwissenschaften selbst eine Herausforderung. Ein Beispiel: Wenn man die Universität betrachtet, sieht man, wie in den letzten 15 Jahren vieles in neuen zeitlichen Strukturen abläuft: Die Lebensläufe sind anders strukturiert, die Projektmittel haben bestimmte Zeiten, Evaluierungszyklen, etc. Ich habe viele gleichzeitige Zeitlogiken am Werk, die alle nicht zusammen passen. Und dadurch habe ich ein Gefühl, ständig getrieben zu sein. De facto bin ich mir gar nicht so sicher, ob wir wirklich schneller sind und mehr Wissen produzieren. Es geht darum, dass Zahlen für uns sprechen: Wie viele Publikationen, wie viel Drittmittel, etc.? Wir verlassen uns daher weniger auf unsere qualitativen Einschätzungen, nehmen uns nicht mehr die Zeit, für unsere Entwicklung ein Gefühl zu entwickeln.
uni:view: Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften. Was fällt Ihnen spontan dazu ein?
Ulrike Felt: Die Sozialwissenschaften stehen sehr viel mehr unter dem gesellschaftlichen Zwang, sich als Wissenschaft zu präsentieren und sich zu legitimieren. Während die Naturwissenschaften keine Sekunde lang hinterfragt werden und sich daher auch selbstbewusster positionieren können.
Helga Nowotny: Die Naturwissenschaften haben sich geöffnet und diese Öffnung geht in Richtung Citizen Science – das kann man natürlich kontrovers diskutieren. Aber es ist eine Intention da, auch Laien am Forschungsprozess in einer bestimmten Weise teilnehmen zu lassen, in der Astronomie hat das z.B. eine lange Tradition. In den Sozialwissenschaften sehe ich diesen Trend so gut wie gar nicht, obwohl es für diese viel näher liegend wäre, sich den Betroffenen zu öffnen.
uni:view: In England werden WissenschafterInnen jeder Fachrichtung dazu angehalten, den Social Impact ihrer Forschung zu beschreiben. Wie sehen Sie das?
Ulrike Felt: Ich finde es spannend. Damit schaffen wir eine unglaubliche Ressource, über Wissenschaft und deren Rolle in der Gesellschaft nachzudenken. Den Social Impact der eigenen Forschung zu beschreiben lohnt sich, weil es uns schult, darüber zu reflektieren, was dieses Wissen außerhalb von der Scientific Community bedeutet.
Helga Nowotny: Ich glaube, diese Impact Statements zwingen uns nachzudenken: Was glauben wir, durch unsere Forschung zu erreichen? Und was erreichen wir wirklich? So wie alle Wissenschaften wollen natürlich auch die Sozialwissenschaften etwas erreichen und beeinflussen. Das ist eine tief sitzende Motivation.
Ulrike Felt: Ich möchte nochmals auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Globalen und dem Lokalen zurückkommen. Die Sozialwissenschaften müssen immer die lokale Perspektive mitdenken, während wir in den Naturwissenschaften davon ausgehen, dass es um globale Erkenntnisse geht. In den Sozialwissenschaften sind die sozialen Fragestellungen anders gelagert, sie sind kulturell bedingt, haben mit der Geschichte zu tun, mit einer Gesellschaftsstruktur. Sozialwissenschaften müssen immer beides sein: Sie müssen eine Frage lokal formulieren können und sie müssen sie global einbetten können.
uni:view: Ist das ein Vorteil der Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften?
Helga Nowotny: Vorteil und Nachteil zugleich. Das Erkenntnisobjekt ist einfach ein anderes. Dennoch sind beide Wissenschaftsfelder zunehmend gefordert, das Ineinandergreifen von Lokal und Global, dem Technischen und dem Kulturellen – sprich die sich ausbreitende "Technosphäre" – viel stärker zu berücksichtigen. Wir brauchen also mehr Öffnung auf beiden Seiten und ein Aufeinander-Zugehen. Die Universität könnte hier eine wichtige Rolle spielen, indem sie Freiräume zur Verfügung stellt und mit Weitsicht die gegenseitige Öffnung fördert.
uni:view: Es wurde einiges über die Unterschiede zwischen Sozial- und Naturwissenschaften gesagt. Wie sieht es denn mit der Zusammenarbeit dieser Disziplinen aus?
Ulrike Felt: Gerade bei großen Themenclustern, wie Umwelt, Essen, Energie, usw., ist es eine durchaus spannende Frage, wie wir es schaffen, dass die Sozialwissenschaften und bestimmte naturwissenschaftliche Felder zusammen arbeiten.
Helga Nowotny: Es braucht von Seiten der Universität mehr Mut zum Experimentieren. Auf einer abstrakten Ebene wissen auch die NaturwissenschafterInnen, dass sie die SozialwissenschafterInnen brauchen. Wenn man beim Thema Klimawandel weiter kommen will, wenn man die Energiewende vollziehen will, usw.: Wo Veränderung passiert, können die Sozialwissenschaften helfen.
uni:view: Apropos Veränderung: In Europa passiert gerade einiges an Veränderung, Stichwort Flüchtlinge. Wie können die Sozialwissenschaften hier helfen?
Helga Nowotny: Vielleicht sollten wir uns auf die europäische Aufklärung besinnen und fragen, was von deren bahnbrechenden Ideen in einer globalen Welt noch Gültigkeit hat und was neu gedacht werden muss. Vielleicht brauchen wir eine neue, eine zweite Aufklärung, die allerdings nicht auf Europa beschränkt sein kann.
Ulrike Felt: Die Sozialwissenschaften müssen den Blick auf die Gesellschaft erweitern und die gegenwärtigen Herausforderungen in einen größeren sozialen Zusammenhang stellen, um die einzelnen Problemzonen besser in ihrer Dynamik verstehen zu können. Wenn wir von einer zweiten Aufklärung sprechen, dann geht es genau darum, ganzheitlichere Sichtweisen zu entwickeln, die zwar konkrete Probleme im Hier und Jetzt aufgreifen, aber die Lösungen in größeren Kontexten denken.
uni:view: Wie wird Europa in 20 Jahren ausschauen?
Helga Nowotny: Vielfältiger, älter und jünger zugleich. Es wird auf die Mischung ankommen, auf eine Art von Rekombination von bereits Bestehendem, aus dem Neues erwächst, um sich einer offenen Zukunft zu stellen.
Ulrike Felt: Ich glaube, dass verschiedenen Formen der Kooperation innerhalb Europas auf sehr unterschiedlichen Ebenen Prozesse des Zusammenwachsens herbeigeführt haben werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es ein homogenes Gebilde Europa geben wird. Ich stelle es mir eher als flexibles Netzwerk vor, welches aus engen und losen Verknüpfungen besteht. Auch werden nicht alle Mitglieder des Netzwerkes auf allen Ebenen in gleicher Weise eng aneinander gebunden sein. Diese Fluidität könnte dann genau die Robustheit des Beziehungsnetzes ausmachen.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (td)
Ulrike Felt studierte Physik, Mathematik und Astronomie und promovierte 1983 in theoretischer Physik an der Universität Wien. Anschließend forschte sie von 1983 bis 1988 als Mitglied eines internationalen Teams von HistorikerInnen und SozialwissenschafterInnen am CERN in Genf. In dieser Zeit vertiefte sich ihr Interesse an der sozialwissenschaftlichen Forschung und sie kehrte 1989 an die Universität Wien zurück. Seither ist sie mit Unterbrechungen durch längere Auslandsaufenthalte in Frankreich, Kanada und der Schweiz am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung tätig. 1997 habilitierte Felt, seit 1999 ist sie Professorin und seit 2004 Vorständin des Instituts. Neben der Leitung des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung war sie außerdem Vizestudienprogrammleiterin für den Master "Science-Technology-Society". Von 2002 bis 2007 war sie Editor-in-Chief des internationalen Journals "Science, Technology and Human Values" (SAGE). Seit 1. Oktober 2014 ist sie Dekanin der Fakultät für Sozialwissenschaften.
Helga Nowotny promovierte 1959 in Rechtswissenschaften an der Universität Wien, 1969 in Soziologie an der Columbia University New York. Sie lehrte von da an u.a. in Wien, Cambridge, Bielefeld, Berlin, Paris. Sie war Gründungsvorstand des Instituts für Wissenschaftsforschung der Universität Wien, bevor sie die Professur für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich übernahm und dort auch das Collegium Helveticum bis zu ihrer Emeritierung 2002 leitete. Von 2007 bis 2010 war sie Vizepräsidentin des Europäischen Forschungsrates, von 2010 bis 2013 dessen Präsidentin. Helga Nowotny hat zahlreiche Ehrungen erfahren. Sie hat Ehrendoktorate von Universitäten in Belgien, Deutschland, Großbritannien, Niederlande, Norwegen und vom Weizmann Institute of Science in Israel erhalten und ist auswärtiges Mitglied mehrerer Akademien für Wissenschaft in verschiedenen europäischen Ländern. Für ihr Lebenswerk in der Wissenschaftsforschung erhielt sie den John Desmond Bernal Preis. 2015 erschien ihr neuestes Buch "The Cunning of Uncertainty" bei Polity Press.