Putin ohne Alternative?

Am 4. März 2012 finden in Russland zum fünften Mal in der postsowjetischen Geschichte die Präsidentschaftswahlen statt. Der Politologe und Osteuropaexperte Dieter Segert analysiert im Vorfeld, welche Bedeutung den Wahlen zukommt, wenn der Sieger schon vorher feststeht.

In Russland wird wieder gewählt, es geht um die wichtigste Machtposition im Staat, die des Präsidenten. Solche Wahlen finden alle vier Jahre statt, dieses Mal aber wird – nach einer Verfassungsänderung – das Amt auf sechs Jahre besetzt. Die Verfassung von 1993 hatte auch festgelegt, dass kein Präsident länger als zwei Perioden im Amt sein darf. Nun stellt sich Putin ein drittes Mal zur Wahl, wenn auch mit Unterbrechung von einer Amtsperiode, in der sein Vertrauter Medwedew Präsident war und insofern formell durchaus korrekt. Im September letzten Jahres hatten beide verkündet, dass sie die Position wieder tauschen werden, eine Aktion, die in einem Leitartikel der Frankfurter Rundschau am 13. Februar zu Recht als Zeichen von Stillstand und Arroganz angesehen wurde. Für die russische Reformhoffnungen war es noch schlimmer: Medwedew hatte als amtierender Präsident die Hoffnung auf Reformen geweckt. Die Rochade zeigte, dass er doch nicht viel mehr war als eine Marionette des eigentlich starken Mannes.

Russland als Wahlautokratie

In der politikwissenschaftlichen Literatur gilt Russland als eine typische "electoral autocracy": Die regelmäßig stattfindenden Wahlen sind kein Zeichen echten politischen Wettbewerbs um Regierungspositionen. Wer Sieger wird, steht schon vorher fest. Jedoch sind die Wahlen auch nicht völlig bedeutungslos: Hier wird geprobt, ob die eigene Machttechnik – die "Polittechnologia"– noch funktioniert, wie erfolgreich die regionalen Gefolgsleute WählerInnen für die Partei der Macht mobilisieren können. Wahlen dienen auch dazu, der Opposition den Schneid abzukaufen, die Alternativlosigkeit des herrschenden Regimes zu demonstrieren. Sie erfüllen nur dann ihren Herrschaftszweck, wenn der Anschein einer Wahl bleibt.

So wurden diesmal fünf Kandidaten zugelassen. Von den zugelassenen Kandidaten ist als einziger der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, G. Sjuganow, eindeutig unabhängig. Beim Milliardär M. Prochorow ist es unter BeobachterInnen umstritten, ob er nur ein Scheinkandidat ist, um die Stimmen der Opposition zu spalten, oder tatsächlich ein Konkurrent Putins. Jedenfalls war er bereits einmal dabei beim Start eines von der regierenden Gruppe initiierten Parteienprojekts, der "Rechten Sache". Wie die letzten Meinungsumfragen des Lewada Zentrums zeigen, liegt Putin mit über 60 Prozent vor Sjuganow, der ungefähr 15 Prozent der Stimmen erwarten kann. Wenn sich nicht noch unerwartet Wesentliches ändert, gewinnt Putin also bereits im ersten Wahlgang eine ausreichende Mehrheit.

Was zeigen die Straßenproteste?


Demonstration gegen die Regierung am 10. Dezember 2011, nach den Wahlen zum Parlament (Foto: Leonid Faerberg)



Nach den Wahlen zum Parlament (der Staatsduma) am 4. Dezember 2011 kam es zu den größten Demonstrationen gegen die Regierung seit 1993. Trotz Wahlfälschungen hatte die regierende Partei "Einiges Russland" nach einer zwei Drittel Mehrheit in den vorangegangenen Wahlen nur eine knappe Mehrheit erhalten. Am nächsten Tag demonstrierten Tausende unter der Losung "Russland ohne Putin".

Diese Proteste waren im Umfang ungewöhnlich und reichten bis in die Mitte der Gesellschaft. Zwei weitere Demonstrationen in Moskau und in weiteren Großstädten Russlands fanden unter der Losung "Ehrliche Wahlen" statt. Ende Februar fand eine weitere Demonstration statt.



Ende Februar 2012 fand die bislang größte Protestaktion der Opposition statt: eine kilometerlange "weiße" Menschenkette um die Moskauer Innenstadt, genau eine Woche vor der Wahl. Zeitgleich gabe es eine Pro-Putin-Menschenkette, deren TeilnehmerInnen trugen rote Herzen mit der Aufschrift "Putin liebt alle". Die Gegner und Anhänger von Präsidentenkandidat Putin standen sich dabei rund vier Stunden am Gartenring gegenüber. (Foto: Vyacheslav-Novozhilov)



Interessant an diesen Protesten sind zum einen ihr ungewöhnlicher Umfang – mehrere Zehntausend BürgerInnen im Zentrum der Hauptstadt. Außerdem handelt es sich, wie Umfragen belegen, um Gruppen aus der städtischen Mittelschicht, der sozialen Gruppe, die von Putins Präsidentschaft profitiert hat und nun offensichtlich eine stärkere Beteiligung einfordert. Schließlich zeigt sich, dass die herrschende Gruppe die Proteste ernst nimmt. Sie organisiert mächtige Gegendemonstrationen unter Losungen wie "Wir haben etwas zu verlieren" und "Wir schützen das Land". Das politische System befindet sich in einer Krise, aber es reagiert darauf nicht mit verstärkter Repression, sondern mit Anpassung.

Wandel in Sicht oder Putin forever?

Daneben wechselte man staatliches Spitzenpersonal aus, so den Sprecher der Duma und den wichtigen stellvertretenden Leiter der Präsidentschaftsadministration. Schließlich wurden – für die kommende Legislaturperiode – einige Reformen angekündigt, so die Senkung der Sperrhürde für Dumawahlen von sieben auf fünf Prozent und die Wiedereinführung der Direktwahl der Gouverneure. Alle Wahllokale sollen mit Webcams ausgestattet werden, so dass Stimmabgabe und Auszählung öffentlich ablaufen werden. Putin bemüht sich um eine Neuformierung der Grundlage seiner politischen Herrschaft. Das ist dann auch ein großer Unterschied zu anderen autoritären Herrschaftsformen: Man weiß, wie wichtig es ist, die Unterstützung der Gesellschaft für die Macht immer wieder zu sichern.


Putin forever? Wladimir Putin war bereits zweimal Präsident und zweimal Ministerpräsident von Russland, jetzt kandidiert er zum 3. Mal für das Präsidentenamt.



Russland heute ist keine Demokratie. Putin und die mit ihm herrschenden politischen und ökonomischen Gruppen wollen alles fest in der Hand behalten. Aber sowohl die politischen Bedürfnisse der protestierenden städtischen Mittelschicht als auch diese flexiblere Herrschaftstaktik Putins könnte auf mittlere Sicht dazu führen, dass sich in Russland ein Raum für eine Liberalisierung und größere politische Partizipation öffnet.


Univ.-Prof. Dr. Dieter Segert ist Vorstand des Instituts für Politikwissenschaft. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Transformation politischer Systeme in Ostmitteleuropa im Vergleich, Politische Geschichte und Erbe des europäischen Staatssozialismus sowie Parteienentwicklung in Osteuropa.
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