Die EU in der Wertekrise: Von den offenen Fragen des Türkei-Deals
| 22. März 2016In ihrem Gastbeitrag nimmt Gerda Falkner, Leiterin des Instituts für Europäische Integrationsforschung, den Türkei-Deal unter die Lupe: Welche Baustellen sind noch offen, was sind die Probleme bei der Umsetzung, welche Gefahren bringt das Abkommen mit sich und: Wird die EU zu einem "failed state"?
Eines ist klar: kein Deal wäre nicht unbedingt die bessere Lösung gewesen. Denn die EU muss handeln, in Hinblick auf die fast 50.000 in Griechenland "Gestrandeten", die mehr als zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei und die vielen Millionen Verzweifelten in Syrien und anderen nahen Krisengebieten. Eine Alternative zum Abkommen mit der Türkei war längst realpolitisch ausgeschlossen – weiterreichende Pläne stecken bestenfalls in den Kinderschuhen, sind aber unausweichlich. (Siehe Kommentar zur Notwendigkeit einer umfassenden Paketverhandlung und einer Art "Neustart" der EU).
Der konkrete Plan zur Kooperation mit der Türkei birgt allerdings eine Vielzahl von Unstimmigkeiten und offenen Baustellen:
• Nur SyrerInnen können legal aus der Türkei in die EU aufgenommen werden. Daher besteht für alle anderen weiter ein Anreiz, übers Mittelmeer zu kommen – und die möglichen Routen sind zahlreich.
• Je weniger Syrerinnen und Syrer "irregulär" zu kommen versuchen und in die Türkei rückgeführt werden, umso weniger nimmt die EU aus der Türkei auf.
• Nachdem die Anreise über die Balkanroute überraschend geschlossen wurde: was geschieht mit den Familienangehörigen von schon in der EU Befindlichen, die jetzt anderswo feststecken? Familienzusammenführung ist menschlicher Imperativ, aber auch im Interesse der Aufnahmeländer, weil die "Vorhut" aus jungen Männern allein schwerer zu integrieren ist.
• Kurzfristig muss die EU schwierigste interne Fragen lösen, v.a. wie die Aufzunehmenden zu verteilen sind. Vereinbart waren ein Kontingent aus 18.000 (seit Sommer 2015 offen für Neuansiedlungen von Flüchtlingen) und eines aus 54.000, das allerdings Griechenland gewidmet war.
• Was geschieht mit den ca. 50.000 Menschen, die schon in Griechenland sind, einem (ver-)arm(t)en Land in tiefer Krise?
• Im Pakt mit der Türkei sind nur 72.000 Übernahmen von SyrerInnen vereinbart, das ist überaus wenig im Vergleich zu den jetzt schon mindestens 1, 5 Millionen dort Befindlichen. Was dann?
Erfreulich ist, was eigentlich für eine "normative Großmacht" (wie sich die EU gern präsentiert und dabei sogar auf den Friedensnobelpreis verweisen kann) selbstverständlich sein sollte, nämlich dass die EU auf Rügen der maßgeblichen internationalen Organisationen an ihren Plänen reagierte und jetzt betont, alle menschenrechtlichen Standards einhalten zu wollen. Allerdings ist in der Praxis unklar, wie das sichergestellt werden könnte:
• "Pauschale Abschiebungen" dürfen nicht stattfinden, Griechenland fehlen allerdings Infrastruktur und Mittel zu ausreichenden und fairen Einzelverfahren. Die EU will einspringen, dass das rasch und gut genug funktionieren kann, bleibt nur zu hoffen.
• Die Türkei konnte sich einige Vorteile herausverhandeln, v.a. durch die Aussicht der Visaliberalisierung ab Juni. Allerdings muss sie dazu einen langen Katalog aus längst vorgegebenen Bedingungen einhalten, die bisher wenig realistisch schienen. Eine transparente und rechtskonforme Überprüfung dessen ist heikel, aber politisch unumgänglich: Beispielwirkung besteht etwa für die Ukraine.
• Auch soll ein zuvor informell eingefrorenes Kapitel der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei geöffnet werden (No.33, Finanzen und Haushalt). Was das außer einem kurzfristigen tagespolitischen Erfolg für Erdogan positiv bewirken kann, ist unklar. Denn die meisten EU-Länder können sich die Türkei nicht als Mitglied vorstellen. Daher sind hier Rückschläge und das Zerschlagen von diplomatischem Porzellan absehbar.
• Weitere Kapitel in den Beitrittsverhandlungen sollen folgen, wenn die Zypern-Frage gelöst ist. Das Junktim macht Sinn, ist aber keineswegs leicht zu einem fruchtbaren Ende zu bringen. Verstärkte diplomatische Bemühungen sind angesagt – in Zeiten, wo die EU ohnehin mit krisenhaften Entwicklungen auf vielen Ebenen kaum Kapazitäten frei hat.
Trotz mancher wohlwollender Ansätze hat das EU-Türkei-Abkommen also eine Vielzahl von potentiellen Bruchstellen. Erleichterung kann erst einsetzen, wenn diese Herausforderungen gelöst sind, aber selbst dann nur sehr punktuell. Denn weiterhin bleiben viele grundlegende Probleme anzugehen. Dazu gehören auch Gefahren, die das jüngste Abkommen weiter verschärft:
• Können diesmal die Ankündigungen eingelöst werden? Schon davor gelang das nicht immer: Wo sind die im Herbst 2015 vereinbarten 50.000 guten Flüchtlings-Unterbringungsplätze, die Griechenland (mit Hilfe des UNHCR) schaffen sollte? Und: selbst ein formeller Mehrheitsbeschluss der EU zur Verteilung von Flüchtlingen in ihren Mitgliedstaaten konnte nicht implementiert werden. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass nicht nur Griechenland, sondern auch die EU, bald als "failed states" angesehen werden könnten …
• Der heikelste Konflikt betrifft aber die in den EU-Verträgen verankerten Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Diese werden derzeit auf allen Ebenen in Frage gestellt: sogar die UNO protestiert gegen den EU-Türkei-Deal mit dem Vorwurf, die Flüchtlings-Abwehr stehe inakzeptabel im Vordergrund. Ungarn und die Slowakei machen auch diesmal beim EU-Resettlement von Flüchtlingen nicht mit, was Zweifel in Hinblick auf die Möglichkeit weiterer Detailkompromisse unter den 28 Ländern aufwirft. Vor allem (nicht nur) Ungarn und Polen haben heute auch ernste interne Schwächen im Bereich demokratischer Rechtsstaatlichkeit, und die EU hat dagegen in der Praxis keine Handhabe. Vor allem aber: wenn die gemeinsame Wertegrundlage zunehmend fehlt, kann dann die zwischenstaatliche Zusammenarbeit überhaupt fruchtbar bleiben? Oder wird die EU zu einer Freihandelszone, in der jedes Land nur mehr den "eigenen" Vorteil sucht?
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerda Falkner leitet das Institut für Europäische Integrationsforschung der Universität Wien.