Buchtipp des Monats von Pia Janke
| 10. Februar 2015Pia Janke, Gründerin des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums und Leiterin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek, gibt im Interview Einblicke in ihre Auseinandersetzung mit der Nobelpreisträgerin und einen persönlichen Jelinek-Buchtipp.
uni:view: Genau zehn Jahre nach der Nobelpreisverleihung an Elfriede Jelinek ist im Dezember 2014 Ihre Buchpublikation "Elfriede Jelinek: Werk und Rezeption" im Praesens Verlag erschienen. Wie ist die Idee zu diesem Projekt bzw. zur Publikation entstanden?
Pia Janke: Ich habe 2002 begonnen, mit acht Studierenden ein Verzeichnis von Elfriede Jelineks Werk und dessen Rezeption zu erarbeiten, das im Oktober 2004, genau zum Nobelpreis – ohne dass das planbar gewesen war – fertig war. Nun, zehn Jahre danach, war der Anspruch, dieses Verzeichnis, für das es damals keinerlei Basis gegeben hatte, grundlegend zu überarbeiten und die Folgen, die der Nobelpreis mit sich gebracht hatte, zu erfassen sowie Jelineks Werke, die seit 2004 entstanden waren, zu dokumentieren. Darüber hinaus wurden alle bisherigen Einträge auf den letzten Stand gebracht und alle Werke auch ausführlich inhaltlich kommentiert. Mittels eines Verweis- und Schlagwortsystems wurden auch Bezüge zwischen ihnen hergestellt sowie Zusammenhänge zwischen den Werken und der Rezeption deutlich gemacht. Die nunmehrige Publikation ist Bibliographie, kompaktes Nachschlagewerk, Einführung, Arbeits- und Lesebuch in einem. So gibt es auch zahlreiche Textausschnitte aus Jelineks Werken, die Lust machen sollen auf eine weitere Lektüre.
Die Publikation besteht aus zwei Bänden: im ersten Band werden Jelineks Werke, die Aufführungen und Übersetzungen der Werke und die Jelinek-Interviews erschlossen, im zweiten Band das gesamte Spektrum der Rezeption: die Bearbeitungen von Jelineks Werken durch andere KünstlerInnen, Preise, Symposien und Schwerpunkte, die Sekundärliteratur und die mediale Berichterstattung, Sendungen in Radio und Fernsehen sowie die Filme mit und über Jelinek.
Anliegen war es, die ganze Bandbreite des Werks einer Autorin zu präsentieren, die sich selbst wiederholt als "Triebtäterin" bezeichnet hat. Dieses Werk hat in den fast 50 Jahren seit der ersten Veröffentlichung 1967 ungeheure Ausmaße angenommen! Man kennt von Jelinek ja vor allem Romane und Theatertexte, aber sie hat auch Lyrik, Kurzprosa, Hörspiele, Drehbücher, Texte für Kompositionen, Libretti, Essays und Übersetzungen verfasst, und sie hat mit den unterschiedlichsten Medien gearbeitet. Alle Werk-Bereiche darzustellen und auch die in den letzten Jahren immer komplexer werdenden Zusammenhänge wie Fortschreibungen, Zusatztexte und unterschiedliche Fassungen aufzuzeigen, war das Ziel.
uni:view: Die Publikation hat insgesamt 1.155 Seiten. Das klingt nach viel Arbeit. Was waren für Sie die größten Herausforderungen in der Erarbeitung der Publikation?
Pia Janke: Obwohl Elfriede Jelinek eine lebende Autorin ist, war die Arbeit extrem aufwändig und überaus mühsam. Materialien waren nur unvollständig oder gar nicht aufbewahrt worden, Texte nicht mehr auffind- oder nachweisbar, Archive und Institutionen hatten Angaben nur rudimentär erfasst, Unterlagen waren verloren gegangen, Leute konnten sich nicht erinnern. Dazu kam, dass die Recherchen die ganze Welt betrafen. Die Fülle an vorhandenen und zu klärenden Angaben und Daten, die in den letzten zehn Jahren schier unüberblickbar geworden waren und zugleich sinnvoll geordnet und miteinander in Beziehung gesetzt werden sollten, sowie die inhaltliche Erschließung von Hunderten überaus komplexer Texte, machten die Arbeit zu einem Unterfangen, das über alle Grenzen, auch der eigenen Kräfte, ging.
Besonders herausfordernd waren dabei zwei Bereiche: Zu einem die Erschließung der weltweiten Übersetzungen von Jelineks Werken. Nach dem Nobelpreis hatte es einen Boom an Übersetzungen gegeben, nicht nur im europäischen Raum, sondern auf allen Kontinenten. Alle diese Übersetzungen mussten erstmals recherchiert werden. Ein internationales, die ganze Welt umspannendes Netzwerk war nötig, um sie auch nur annähernd zu erfassen. Zum anderen die Dokumentation der über 800 essayistischen Texte Jelineks, die sie durch die Jahre hindurch zu gesellschaftlichen, politischen, ästhetischen, feministischen Themen, aber auch zu Mode, Wissenschaft, zu Biographischem und zu ihren eigenen Werken verfasst hat. Diese Texte sind weitverstreut publiziert und überaus flüchtig. In monatelanger Arbeit wurden sie in Form von Kommentierungen nun alle auch inhaltlich erschlossen, und es wurden auch die verschiedenen Fassungen, Nachdrucke und Teilabdrucke zusammengeführt.
Aber auch die generelle Überlieferungslage von Jelineks Werken ist problematisch: so sind viele Arbeiten nicht oder nur schwer verfügbar bzw. nicht veröffentlicht, die veröffentlichten Texte wiederum sind zumeist nur punktuell publiziert in den unterschiedlichsten, nur schwer greifbaren Publikationsmedien, andere wiederum verschwinden nach kürzester Zeit wieder, z.B. von Jelineks Homepage, oder sind mit divergierenden Titeln mehrfach abgedruckt.
All das macht diese kommentierte Werk- und Rezeptionsdokumentation zu einem für die weitere Literaturforschung auch insofern wichtigen Unterfangen, als Jelineks Arbeiten dadurch "gesichert" werden, indem der Flüchtigkeit, Verstreutheit und dem drohenden Verlorengehen entgegenarbeitet wird, die Werke auffindbar und einsehbar gemacht werden und eine gesicherte Quellenlage garantiert wird.
uni:view: Sie haben 2004 das Elfriede Jelinek-Forschungszentrum gegründet und leiten auch seit 2013 die Forschungsplattform Elfriede Jelinek der Universität Wien. Das heißt, Sie kennen Werk und Schaffen von Elfriede Jelinek besser als viele andere, beschäftigen sich beruflich täglich damit. Hat es trotzdem während der Arbeit zu Ihrer Publikation Überraschungen für Sie gegeben?
Pia Janke: Nicht wirklich Überraschungen, aber doch die Erkenntnis, dass so ein Verzeichnis letztlich nicht nur Werk und Rezeption Jelineks erschließt, sondern auch die Kontexte, in denen sie steht wie das literarische Leben, das von ihr wesentlich mitgeprägt wurde, die ästhetischen Entwicklungen, die sie aufgegriffen bzw. selbst vorantrieben hat, z.B. Tendenzen der Gattungsüberschreitung und der Medien-Vernetzung, sowie die sozialen und politischen Ereignisse und Tendenzen der letzten fünf Jahrzehnte, auf die Jelinek in ihren Arbeiten laufend Bezug nimmt.
Und eine solche Dokumentation macht auch bewusst, dass Jelinek keineswegs nur als "österreichische" Autorin anzusehen ist, wie das oft, vor allem im deutschen Feuilleton, getan wird, sondern als Schriftstellerin, die weltweit rezipiert wird und die, gerade in den letzten Jahren, neben österreichischen Themen auch virulente globale Konflikte wie den Irakkrieg, die Wirtschaftskrise, Zensur, politische Verfolgung und Migration literarisch aufgreift.
uni:view: Was fasziniert Sie an Elfriede Jelineks Werk am meisten – nach all den intensiven Forschungsjahren, die Sie damit verbracht haben?
Pia Janke: Dass sie, wie sonst kaum jemand, in ihren Arbeiten am Puls unserer Zeit und unserer aktuellen gesellschaftlichen Probleme und Entwicklungen ist, ja, dass sie diese manchmal auch seismographisch vorwegnimmt. Dass sie also in ihren Texten uns und unsere Welt unmittelbar reflektiert. Und dass sie das mit einer hochkomplexen ästhetischen Form macht, in der die Sprache das Zentrum bildet, die sie immer neu und anders zu sprechen bringt, in ihren Mechanismen bewusst macht und dadurch unsere Sichtweisen irritiert.
Ich muss auch oft laut lachen, wenn ich Jelinek-Texte lese. Der Witz und die Komik, die ihre Texten haben, werden viel zu selten wahrgenommen. Es bereitet mir also auch großes Vergnügen, mich mit Jelinek-Texten zu beschäftigen.
|
---|
uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Pia Janke: Ich empfehle Elfriede Jelineks Theatertext "Winterreise", der 2011 in Buchform im Rowohlt Verlag erschienen ist. Dieses Stück wurde im selben Jahr an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und ist zurzeit auch in Wien am Akademietheater zu sehen.
Mir ist dieser Text Jelineks sehr nah, weil er als Grundlage ein musikalisches Werk hat, nämlich Franz Schuberts Liederzyklus "Winterreise". Ich war ja vor meiner Universitäts-Zeit Musiktheaterdramaturgin, u.a. an der Wiener Staatsoper und in Bonn. Mich interessieren deswegen Jelineks Musik-Bezüge besonders, die es auf den verschiedendsten Ebenen gibt. Jelinek kommt ja ursprünglich von der Musik, sie hat eine mehrfache musikalische Ausbildung, es gibt aus den 1960er Jahren Kompositionen von ihr, sie hat mit Komponistinnen wie Patricia Jünger und Olga Neuwirth zusammengearbeitet, es gibt zahlreiche thematische Bezugnahmen auf Musik in ihren Arbeiten, und und sie versteht sich auch in ihrem Schreiben im Eigentlichen als "Komponistin". Schubert ist Jelineks Lieblingskomponist, und nach früheren Texten, u.a. einer Bearbeitung von zwei Schubert-Singspielen, einer Neufassung der "Rosamunde", einem Essay zu ihm und der Benutzung von Titeln wie "Der Tod und das Mädchen" oder "Der Wanderer", hat sie nun ein Stück verfasst, das einen Liederzyklus von Schubert fortschreibt und bei dem man die Schubert-Musik zwischen den Zeilen quasi "durchhören" kann.
uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Pia Janke: Jelineks "Winterreise" ist ein stiller, melancholischer, aber auch, wie ihre Arbeiten immer, ein intensiver und kraftvoller Text, der eine ganz besondere Atmosphäre hat. Er führt thematisch den Beginn von Schuberts "Winterreise", den Satz "Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh’ ich wieder aus", weiter, indem darin verschiedene Formen des Fremd-Seins in der Welt zur Sprache gebracht werden: Wanderer, die keinen Einlass erhalten bzw. die nicht in der Zeit sind, aus der Gesellschaft Ausgestoßene, Vertriebene, Einsame, z.B. auch im Internet, im Abseits Stehende, wobei am Ende als "Ich" auch eine Autorin-Figur auftaucht, die, wie der Leiermann im letzten Lied der "Winterreise", zu den immer selben Liedern ihre Leier dreht und der niemand mehr zuhören mag. Das liest sich auch wie ein ironischer Selbstkommentar.
Die acht Abschnitte des Stücks beziehen sich intertextuell auf bestimmte Lieder aus Schuberts Zyklus, Begriffe, die bei Schubert zentral sind, wie Schmerz, Erstarrung, Kälte und Tränen durchziehen auch Jelineks Text, und Jelinek arbeitet auch aktuelle Ereignisse, wie den Hypo Alpe Adria-Skandal oder den Fall Natascha Kampusch, ein.
"Winterreise" ist zugleich ein Text, der Jelineks Theaterkonzeption gut einsehbar macht: keine psychologischen Figuren treten mehr auf, sondern die Sprache selbst, Sprechweisen, Sprachhaltungen, Formen der Wir-Aussprachen – und in diesem Stück vor allem unterschiedliche Ich-Aussprachen, die aus dem kollektiven Gerede ausgeschlossen sind und keine Zugehörigkeit haben.
uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Pia Janke: Der Wunsch, es gleich wieder aufzumachen und alles noch einmal zu lesen – und danach noch einmal. Denn Jelineks Texte werden immer reicher, immer vielschichtiger, immer abgründiger, aber auch immer komischer, je öfter man sie liest. Je besser man sie kennt, desto mehr nimmt man an ihnen wahr, desto mehr sieht und vor allem hört man sie und bemerkt, was sie alles evozieren, nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch, rhythmisch, musikalisch. (td)