"Belastungsgrenze für Fukushima sollte höher sein"

Wäre das japanische Kernkraftwerk Fukushima 1 den Vorschriften der japanischen Regierung entsprechend baulich verbessert worden, hätte es das verheerende Beben von vergangener Woche eigentlich unbeschadet überstehen sollen. So Götz Bokelmann vom Institut für Meteorologie und Geophysik im Rahmen einer Informationsveranstaltung an der Universität Wien zur Lage in Japan.

Das Anfang der 1970er Jahre entstandene Kernkraftwerk sei auf Bodenbeschleunigungen von maximal 18 Prozent der Erdbeschleunigung ausgelegt gewesen, 2008 habe die japanische Regierung diese Belastungsgrenze aber auf 60 Prozent hinaufgesetzt. Das sei aber offensichtlich in Fukushima nicht umgesetzt worden.

Beim aktuellen Beben wurden laut Götz Bokelmann Beschleunigungen von 25 Prozent registriert. Bei Einhaltung der Vorschriften hätte das Kraftwerk "das eigentlich aushalten müssen", sagte der Seismologe. Er vermutet, dass die höheren Belastungsgrenzen in Fukushima nicht umgesetzt wurden, weil das Kraftwerk ohnedies im Frühjahr 2011 abgeschalten werden sollte.

Beschleunigung durch Erdbebenwellen ausgelöst


Laut Bokelmann war das "Sendai-Beben" eines der weltweit stärksten bisher gemessenen Beben. Mit einer Stärke von 9,0 und einer Bruchfläche von 500 Kilometern entspreche die "freigesetzte Energie des Bebens der mehr als 600millionenfachen Energie der Nuklearexplosion von Hiroshima. "Allerdings ist für die Schäden die Magnitude nicht so wichtig wie die maximal mögliche Beschleunigung des Bodens", erklärt Bokelmann. Bei der aktuellen Katastrophe sei die durch die Erdbebenwellen ausgelöste Beschleunigung des Bodens mit etwa einem Viertel der Erdbeschleunigung nicht so hoch gewesen. Es gebe Beben mit deutlich höherer Beschleunigung, etwa jenes von Christchurch Ende Februar mit 220 Prozent der Erdbeschleunigung.

Tokio gefährdet

Die Wissenschaft wisse erst seit kurzen, dass Erdbeben mit so starken Boden-Beschleunigungen, sogenannte "Blind Thrust Earthquakes", nicht überall auftreten können, sondern nur bei geologischen Verwerfungen. Und eine solche spezielle geologische Situation gebe es auch unter dem Großraum Tokio, wo 35 Millionen Menschen leben. 1923 hatte in dieser Region ein Beben der Stärke 7,9 etwa 140.000 Menschen getötet. Die ExpertInnen erwarten, dass sich ein solches Beben in der Tokio umgebenden Region Kanto wieder ereignen wird, wobei dessen Auswirkungen angesichts des enormen Bevölkerungswachstums in dem Gebiet sicher dramatisch wären.

Bokelmann zeigte sich auch überzeugt, dass die Wissenschaft "große Fortschritte bei der Erdbeben-Vorhersage" machen wird, was aber noch "Zukunftsmusik" sei. Es sei aber schon möglich, "Effekte von Erdbeben vorherzusagen". In Japan würde es bereits solche Systeme in einem experimentellen Stadium geben, die schon Leben gerettet hätten. Solche Warnsysteme machen sich den besonderen Ablauf eines Bebens zunutze. Denn den zerstörerischen Oberflächenwellen geht üblicherweise eine charakteristische Primärwelle voran – und zwar in der Größenordnung von Dutzenden Sekunden.

Wenn nun Computerprogramme solche Primärwellen detektieren, würde noch genügend Zeit bleiben, um automatisch etwa Gasleitungen abzudrehen, bis die Oberflächenwellen ihre zerstörerische Kraft entfalten – und so Explosionen oder Brände vermeiden.

Im Anschluss an den Vortrag von Götz Bokelmann diskutierte der Wissenschafter mit seinen Kollegen Reinhold Steinacker (Universität Wien, Institut für Meteorologie und Geophysik) und Wolfgang Kromp (Universität für Bodenkultur, Institut für Risikoforschung) über die Fragen: Wie konnte es dazu kommen? Mit welchen weiteren Entwicklungen ist in den kommenden Wochen zu rechnen? (APA)