Literarischer Stadtspaziergang

Von Schnitzler bis Menasse: Wien war und ist Schauplatz unzähliger literarischer Werke. Im Rahmen des Projekts "Viennavigator" erarbeitet ein Team der Universität Wien und der Wienbibliothek ein literarisches Navigationssystem durch die Stadt und veranstaltet dazu einen Workshop am 20. und 21. September sowie eine Ringvorlesung ab 3. Oktober.

Literarische Texte enthalten topographische Daten in vielerlei Brechungen. Sie reichen von der schlichten Lokalisierung aufgezeichneten Geschehens über genaue Ortsbeschreibungen bis hin zur Generierung literarischer Orte, die in der kulturellen Praxis tradiert und sogar kanonbildend werden können. Topographisch identifizierbare Orte werden demnach nicht allein literarisch erfasst, sie werden literarisch "entdeckt" und dann oft zu Stereotypen ausgeformt (die Alpen im 18. Jahrhundert, London im frühen 19. Jahrhundert, Amerika im 20. Jahrhundert), ins Imaginäre überführt und in der symbolischen Ordnung verankert (Alte Welt – Neue Welt, Orient, Südsee). Diese Prozesse zu beobachten oder zu rekonstruieren ermöglicht Aufschlüsse über die kognitive Verarbeitung von Raumerfahrung und ihre sprachliche Konstruktion, ihre psychologischen und soziokulturellen Bedingungen, ihre kulturspezifischen Ausprägungen und ihren historischen Wandel.

Die systematische Erfassung literarischer Topographie ergänzt andererseits die geographische und historische Information über Räume um die Kategorie der mentalen Erfahrung in und mit diesen Räumen und lässt gerade im Kulturvergleich die Konstanten ihrer symbolischen Verarbeitung und Funktionalisierung hervortreten.

Urbane Räume literarisch bearbeiten


Als besonders signifikant erweist sich in diesem Zusammenhang die literarische Bearbeitung städtischer Räume. Auch hier steht neben der konkreten Lokalisierung die Erfassung und Festschreibung typischer Strukturen: prototypische Stadtlokalitäten wie Bahnhof, Bibliothek, Kaffeehaus, Kino, Theater etc. oder stadtspezifische Lokalitäten wie der Alexanderplatz oder die Strudlhofstiege. Dazu kommen insbesondere bei Metropolen Formen komplexer Imagebildung: das "magische" Prag; das "märkische Dorf" Berlin; Paris als "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts"; oder das "männliche" Petersburg vs. das "weibliche" Moskau. Schließlich ergeben sich unterschiedliche Perspektivierungen je nachdem, ob die Stadt von einem alteingesessenen Bewohner oder einem durchreisenden Fremden, einem Verweilenden oder einem Passanten, als soziale Umgebung oder als Kulisse wahrgenommen wird.


"Die Strudlhofstiege" gilt als das bekannteste und beliebteste Werk Heimito von Doderers. Im Bild ein Gedicht aus dem Roman auf einer Tafel am Fuß der Strudlhofstiege in Wien. (Foto: Andreas Praefcke, Wikipedia)



Stadtliteratur als Informationslieferant


Stadtliteratur vermittelt so auf unterschiedlichste Weise und auf verschiedenen Ebenen Information über konkrete Städte. Sie erfasst das topographische Profil einer Stadt ebenso wie deren realhistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Wandel. Gegenüber bisher gängigen Ansätzen der Erforschung von "Städtebildern" im Rahmen literarischer Imageforschung oder von literarischem mapping im Kontext urbanistischer Ansätze wie auch im Unterschied zu sozial-, mentalitäts- und mediengeschichtlichen Untersuchungen kann die städtische Profilbildung (Cityscape) in der Literatur über eine nach den Prinzipien eines Geoinformationssystems aufgebaute und digital verwaltete Datenbank erfasst, allgemein zugänglich gemacht und systematisch nach bisher kaum in Anschlag gebrachten Kriterien abgefragt werden.

Der "Viennavigator"

Das in Kooperation mit der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien durchgeführte Projekt "Viennavigator" dient der Erarbeitung eines digital verwalteten Informationssystems der auf Wien bezogenen Literatur. Als Open Source werden all jene Textstellen gespeichert, die sich auf durch Stadtpläne, Straßenregister bzw. GPS identifizierbare Orte in Wien beziehen. Die erfassten Texte sollen der ganzen Breite der Literaturgeschichte aller Sprachen und Kulturen entstammen, wobei das Archiv auch ergänzt werden kann durch ad hoc verfasste Texte nicht-professioneller AutorInnen. Die Texte werden vor Ort zum Download auf Handys, Tablet PCs und anderen Lesegeräten zur Verfügung gestellt.

Die Nutzungs- und Verwertungsmöglichkeiten eines solchen "Viennavigators" etwa im Bereich des "City Brandings" liegen auf der Hand. Ausgehend von diesem Projekt und im Vergleich mit analogen Unternehmungen, die in Bezug auf die Stadtliteratur anderer Metropolen (London, Petersburg, New York, Prag u.a.) bereits angelaufen sind, ergeben sich eine ganze Reihe wissenschaftlicher Fragestellungen, die weit über die Literaturwissenschaft hinausreichen.

Workshop und Ringvorlesung

Im Rahmen eines Workshops am 20. und 21. September sollen daher VertreterInnen der Philologien wie auch der Geoinformationswissenschaft zusammenkommen, um Fragen des Aufbaus, der Verwaltung und der Pflege eines solchen Informationssystems, die Möglichkeiten seiner Nutzung und die sich daraus ergebenden wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten zu diskutieren.

Am 3. Oktober 2012 (13.30 bis 20 Uhr) startet an der Universiät Wien die Ringvorlesung "Wien in der Literatur" unter der Leitung von Christine Ivanovic und Norbert Bachleitner. (red)

Workshop: Viennavigator – Literatur als Informationssystem?
Mittwoch und Donnerstag, 20. und 21. September 2012
Musiksammlung der Wienbibliothek, Bartensteingasse 9, 1010 Wien
Weitere Informationen (PDF)

Ringvorlesung: Wien in der Literatur

Erster Termin: Mittwoch, 3. Oktober 2012, 18.30 bis 20 Uhr
Universität Wien, Hörsaal 34, Hauptgebäude, Hochparterre, Stiege 6
Universitätsring 1, 1010 Wien

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