Drei Tage, eine Frage: Sozialkonstruktivismus als Paradigma?
Gastbeitrag vom Institut für Soziologie | 13. Mai 2016Ende April luden Michaela Pfadenhauer (Universität Wien) und Hubert Knoblauch (TU Berlin) zu einem internationalen Symposium im Kleinen Festsaal der Universität Wien. Ausgangspunkt war das 50-jährige Jubiläum des soziologischen Buchklassikers "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit".
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25 internationale Vortragende und 200 Gäste nahmen an dem dreitägigen Symposium teil, das sich rund um das 1966 veröffentlichte Buch "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" von Peter L. Berger und Thomas Luckmann drehte. Das Symposium bewies das auch heutzutage noch anhaltende Interesse für das Werk, das den Grundstock für den Sozialkonstruktivismus als Paradigma gelegt hat.
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Michaela Pfadenhauer vom Institut für Soziologie erläuterte in ihrer Eröffnung – krankheitsbedingt per Videoübertragung – am Donnerstag, 28. April, den Titel des Symposiums als Frage danach, ob die mit dem Sozialkonstruktivismus assoziierten Ansätze, deren namhafte RepräsentantInnen im Raum vertreten waren, mehr als eine Begriffs- und Familienähnlichkeit, nämliche eine gleichgelagerte Stoßrichtung wissenschaftlicher Problemstellungen und tragfähiger Lösungen aufweisen.
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Ehrengast und Mit-Autor Peter L. Berger, der als weltweit bekannter Religions- und Wissenssoziologe am selben Tag mit dem "Großen Silbernen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich" ausgezeichnet worden war, hielt abends in einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) und dem Wien Museum die Jan Patočka Memorial Lecture.
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Ulrike Felt, Dekanin der Fakultät für Sozialwissenschaften, begrüßte das Auditorium zur Eröffnung des Symposiums am ersten Tag und zeigte in ihrem Vortrag am zweiten Veranstaltungstag anhand von "Imaginaries" die Relevanz von Wissenschaft und Technik für die Gegenwartsgesellschaft und die sozialkonstruktivistische Perspektive der Wissenschafts- und Technikforschung auf.
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Der Grazer Soziologe Manfred Prisching zeichnete den auch in einer international besetzten Podiumsdiskussion verhandelten "Stammbaum" des Sozialkonstruktivismus nach, für den die österreichischen Wurzeln von Peter L. Berger und Thomas Luckmann ebenso wie die ihres Lehrers Alfred Schütz bedeutsam sind, der im Gelehrtenkreis der Nationalökonomie um Ludwig van Mises verkehrte und wie Peter L. Berger aus Österreich emigrieren musste.
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Am Morgen des zweiten Kongresstages, der im Zeichen der Variationen des Sozialkonstruktivismus stand, machte Harry Collins (Cardiff School of Social Sciences, UK) als Vertreter des empirisch ausgerichteten Methodologischen Relativismus deutlich, dass Peter L. Berger und Thomas Luckmann mit ihrem Buch "The Social Construction of Reality" den Boden für die Sociology of Scientific Knowledge bereiteten.
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Trevor Pinch (Cornell University, USA) entfaltete die soziale Konstruktion technischer Artefakte am Beispiel des Synthesizers. Anhand dieses Instruments wird offensichtlich, dass Fragen der Gestaltung, Verwendung und Durchsetzung technischer Entwicklungen nicht im Labor, sondern von gesellschaftlichen Gruppierungen entschieden werden, ebenso wie kulturelle Klang- und Hörgewohnheiten von technischen Innovationen hervorgebracht werden.
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Der Sozialpsychologe Kenneth Gergen (Swarthmore College, USA) erinnerte an den für den Sozialkonstruktivismus prägenden Zeitgeist der 1960er Jahre und zeichnete entlang seines Lebenslaufs anekdotisch dessen Einfluss auf seinen als "Social Constructionism" bekannt gewordenen Ansatz nach.
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Am Abend des zweiten Tages erläuterte John W. Meyer (Stanford University, USA) die globalen Auswirkungen der Expansion der Wissensgesellschaft und betonte dabei vor dem Hintergrund seiner Perspektive eines "Neo-Institutionalismus" den für die jeweiligen sozialen Herausforderungen notwendig zu beachtenden historischen Kontext.
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Reiner Keller (Universität Augsburg), Vorsitzender der Sektion Wissenssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die das Symposium mitveranstaltete, eröffnete am Samstag, 30. April, den dritten Kongresstag und zeigte in seinem Vortrag neuere Entwicklungen in Richtung eines diskursiven und kommunikativen Konstruktivismus auf.
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Joachim Renn (Universität Münster) attestierte dem Sozialkonstruktivismus den Status eines wissenschaftlichen Paradigmas und argumentierte, dass derartige Theoriebewegungen in historisch-evolutionärer Perspektive zu betrachten seien, womit sich die Frage nach dem "Danach" stellt.
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Im Abschlussvortrag und der anschließenden Verabschiedung mit Michaela Pfadenhauer verwies Hubert Knoblauch noch einmal auf die Vorreiterrolle des Werks "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit". Das Innovationspotential sei u.a. daran abzulesen, dass darin viele der derzeit in den Sozialwissenschaften prominent verhandelten Fragen (etwa des linguistic turn, practice turn, material turn etc.) bereits antizipiert wären, womit das Fundament für ein Paradigma bereitet worden sei. (Fotos: Maria Schlechter, Text: Heiko Kirschner)
Zum Nachschauen:
Peter L. Berger hielt am 28. April 2016 im Wien Museum die Jan Patočka Memorial Lecture zum Thema "Toward a New Paradigm for Modernity and Religion":