Fächerübergreifender Dialog zum wissenschaftlichen Beweis
| 21. Juli 2011Am Freitag, 15. Juli 2011, ging die von der Universität Wien und vom Institut Wiener Kreis organisierte 11. Vienna International Summer University (VISU) über "The Nature of Scientific Evidence" zu Ende. Auf Seiten der Vortragenden standen die Interdisziplinarität und die Internationalität ebenso im Zentrum wie bei den HörerInnen: Über 30 TeilnehmerInnen aus mehr als 20 Ländern kamen im Campus der Universität Wien zusammen, um ihre Ansichten über den Begriff des "Beweises" in wissenschaftlichen und rechtlichen Kontexten auszutauschen.
Die Veranstaltung bot nicht nur Möglichkeiten des Dialogs über nationale, sondern auch über fachliche Grenzen hinweg. Dies führte zu einer anregenden Pluralität der Zugänge zum Thema sowie zum sprichwörtlichen Blick über den fachlichen Tellerrand. So war es einigen TeilnehmerInnen mehr darum zu tun, eine historische Rekonstruktion unseres heutigen Begriffsgebrauchs von "Evidenz" in den Wissenschaften zu erreichen, wohingegen andere sich auf die rationale Rekonstruktion der Argumentationen spezialisiert haben.
Bei alldem lag das Hauptaugenmerk der 11. Vienna International Summer University auf Interaktivität. So wurde neben den täglich zwei Plenar-Vorträgen ausgiebig Zeit für Diskussionen reserviert. Diese spielten sich entweder in der ganzen Gruppe oder in kleineren Teilgruppen ab, die nach Diskussionsphasen wieder zusammenkamen, um sich gegenseitig ihre Ergebnisse zu präsentieren. Ebenso konnten die TeilnehmerInnen ihre eigenen Projekte zur Diskussion stellen.
Wertvolle Anregungen
Die historisch interessierten TeilnehmerInnen fanden viele wertvolle Anregungen bei Tal Golan (University of California, San Diego), der als Historiker die entwicklungsgeschichtlichen Hintergründe unseres heutigen Begriffs von Evidenz darlegte. Der Psychologe David Lagnado (University College London) erläuterte sein Konzept "Legal Lego" zur Geltung von Evidenz in diesem Kontext. Er beschäftigte sich vor allem mit statistischen Methoden des Bayesianismus und fragte, inwiefern diese eine Bereicherung für unsere Argumentation durch den Verweis auf Evidenz darstellen.
Hasok Chang (University of Cambridge) schließlich konzentrierte sich auf die argumentative Rekonstruktion. Er beschäftigte sich mit dem Begriff der Evidenz in einer philosophischen Optik und stellte u.a. Fragen nach dem Induktionsproblem des Empirismus sowie den Stärken und Schwächen von Sir Karl Poppers Falsifikationismus.
Auf Höhe der Zeit
"Auffallend war, dass Beispiele aus der Rechtsprechung einen wichtigen Platz in den Präsentationen einnahmen", resümiert Elisabeth Nemeth (Institut für Philosophie und Institut Wiener Kreis der Universität Wien): "Der Psychologe David Lagnado zeigte auf, dass Gerichtsverfahren in den letzten Jahrzehnten immer öfter statistische Wahrscheinlichkeiten einbeziehen. Freilich werden in den juristischen Verfahren die theoretischen Voraussetzungen, unter denen WissenschafterInnen statistische Wahrscheinlichkeiten berechnen, oft nicht berücksichtigt. Und das kann zu falschen oder zumindest stark irreführenden Annahmen führen."
Aber nicht nur die Jurisprudenz beziehe Methoden aus der Wissenschaft. "Der Historiker Tal Golan führte vor, dass auch die umgekehrte Bewegung existiert: In den Rechtssystemen werden Fragen verhandelt, die Philosophen als genuin philosophisch betrachten würden: Was ist ein Faktum? Was eine Meinung? Wie stehen sie zueinander? Welcher Instanz steht es zu, eine Meinung zu äußern bzw. ein Faktum festzustellen? Golan arbeitete heraus, dass Transformationen in den Wissenschaften und im Rechtssystem Wechselwirkungen aufeinander ausüben", so Nemeth.
Was in den Wissenschaften unter Evidenz verstanden werde, könne manchmal besser erfasst werden, wenn man es in Beziehung zu dem setzt, was JuristInnen unter Evidenz begreifen:"Hasok Chang gehört zu den Philosophen, die diese scheinbar externen Komponenten zentraler philosophischen Fragen sehr ernst nehmen. Er diskutierte begriffliche und strukturelle Fragen wissenschaftlicher Theorien sehr genau an Beispielen konkreter wissenschaftlicher Praktiken in ihrem historischen Kontext. Es war vor allem seiner Aufmerksamkeit zu verdanken, dass die thematischen Stränge aus Geschichte und Psychologie immer wieder in gemeinsamen Fragestellungen zusammengeführt wurden."
Wissenschaften und Geltungsansprüche
So manifestierte die diesjährige VISU Elisabeth Nemeth zufolge eine Tendenz, die die Wissenschaftsphilosophie in den letzten Jahren stark verändert hat: "Die Wissenschaften werden als Praktiken gesehen, die – um sich selbst besser zu verstehen – ihre Aufmerksamkeit auch auf die Art und Weise richten sollen, in der Geltungsansprüche in anderen gesellschaftlichen Bereichen formuliert und begründet werden. Die Verfahren zur Erhebung von Sachverhalten und Erwägung von Gesichtspunkten zur Urteilsfindung vor Gericht sind hier besonders instruktive Beispiele", so die Philosophin: "Es wurde sehr deutlich, dass wissenschaftsphilosophische Betrachtungen dann besonders fruchtbar sind, wenn es ihnen gelingt, aufzuzeigen, wie Veränderungen in den Wissenschaften mit solchen in anderen gesellschaftlichen Bereichen verbunden sind."
Mag. Sebastian Kletzl ist Mitarbeiter der VISU und dissertiert und lehrt am Institut für Philosophie.
Die Vienna International Summer University/Scientific World Conceptions (VISU/SWC) wird unter der wissenschaftlichen Leitung von Univ.-Prof. Mag. Dr. Friedrich Stadler seit 2001 in Zusammenarbeit mit dem Institut Wiener Kreis – ab Mai 2011 auch als Subeinheit der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft – und der Universität Wien veranstaltet. VISU war zwischen 2006 und 2009 Teil des Initiativkollegs "The Sciences in Historical Context" und ist seit 2010 integraler Bestandteil des Curriculums des dreijährigen FWF-Doktoratskollegs "The Sciences in Historical, Philosophical and Cultural Contexts". Die nächstjährige VISU/SWC (2. bis 13. Juli 2012) wird sich dem Thema "Applied Science. Historical, Epistemological, and Institutional Characteristics" widmen. Zu den Hauptvortragenden zählen Martin Carrier (Universität Bielefeld), Rose-Mary Sargent (Merrimack College) und Peter Weingart (Universität Bielefeld). |
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Terminhinweis:
Im Rahmen der Jubiläumskonferenz "20 Jahre Institut Wiener Kreis: Philosophy of Science in Europe – European Philosophy of Science and the Viennese Heritage", die vom 5. bis 7. Dezember 2011 am Campus der Universität Wien stattfindet, wird die Festschrift "10 Jahre VISU" mit dem Titel "Hobson Lectures" (hg. von O. Flanagan) publiziert.
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