Henning Schluß: Bildung – Erziehung – Öffentlichkeit

Seit August 2010 ist Henning Schluß Professor für Empirische Bildungsforschung und Bildungstheorie. Der Berliner genießt die einmalige Gelegenheit, an der Universität Wien theoretische Forschung mit praktischen Bildungsfragen zu verknüpfen und damit einen neuen Arbeitsbereich zu etablieren.

Das Fahrrad im Büro des Professors sticht sofort ins Auge. Darüber hängt ein Bild einer Potsdamer Künstlerin mit dem Titel "Der Fall". Ein Nebeneinander unterschiedlicher "Bilder" findet sich auch im Lebenslauf von Henning Schluß: Berufsausbildung zum Elektroniker und Studium der Theologie und Erziehungswissenschaften. Dazwischen war Henning Schluß der erste inoffizielle Zivildiener der DDR: Da es dort keinen Zivildienst gab, startete er – gemeinsam mit der Diakonie – ein entsprechendes Pilotprojekt und arbeitete für zwei Jahre in einem Heim für Menschen mit Behinderung.

Vom Zivi zum Professor

"Für jemanden der politisch nicht auf Linie war, standen die Chancen auf ein Abitur eigentlich gleich null", erklärt Henning Schluß vom Institut für Bildungswissenschaft seine Berufsausbildung zum Elektroniker. "Doch ich hatte Glück und konnte nach dem Zivildienst an einem kirchlichen Seminar Theologie studieren. Nach der friedlichen Revolution ging es weiter an die Universität", erzählt Schluß.

Nachdem er sich mehrere Jahre für die Evangelische Landeskirche mit Schul- und Bildungsfragen in Brandenburg auseinander gesetzt und an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen geforscht und gelehrt hat, folgte er dem Ruf nach Wien, wo er seit August 2010 diese beiden Interessen miteinander verknüpfen kann. "Die neu eingerichtete Professur ist einmalig im deutschsprachigen Raum", freut sich der Professor für Empirische Bildungsforschung und Bildungstheorie, der sein "Lebensthema" – Bildung als öffentliche Aufgabe – auch in seiner Antrittsvorlesung zum Ausdruck bringen will.

Öffentlichkeit vs. Staatlichkeit

"Ich finde die Trias von Bildung, Erziehung und Öffentlichkeit äußerst spannend", so Schluß. Er will vor allem die Differenz zwischen Staatlichkeit und Öffentlichkeit aufzeigen und in die aktuelle Bildungsdebatte einbringen: Laut dem Bildungsexperten wird die Gleichsetzung von öffentlichem mit staatlichem Gut dem Begriff von Öffentlichkeit nicht gerecht.

Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Staatlichkeit in der Praxis schaut sich Schluß im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojekts mit dem BIFIE (Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens) an: "Im Rahmen der Evaluierung der neuen Reifeprüfung sehen wir, welches – marginale – Mitspracherecht die Öffentlichkeit bei der Erreichung von gewissen Bildungszielen hat und, ob diese Ziele so überhaupt erreicht werden können".

Religiöse Kompetenz und Interdisziplinarität

Auch die religiöse Bildung sieht Schluß als wichtigen Teil der Allgemeinbildung. "Für einen respektvollen Umgang miteinander ist sie einfach notwendig", erklärt der Theologe den Zugang zu seinem zweiten Forschungsschwerpunkt. "Gerade in Hinblick auf öffentliche Bildung erleben wir einerseits einen Traditionsabbruch, andererseits gehört Religion in der multikulturellen Gesellschaft mehr denn je zu unserem Alltag: Wenn diese Kompetenzen zur Teilhabe am öffentlichen Leben notwendig sind, sie aber niemand anders als die Schule in reflexiver Weise vermitteln kann, ergibt sich der Bildungsauftrag für die öffentlichen Schule", sagt er.

Um die verschiedenen Religionsdidaktiken miteinander ins Gespräch zu bringen, zu vergleichen und in weiterer Folge Modelle zur Beschreibung religiöser Kompetenz zu entwickeln, ist der Wissenschafter mit KollegInnen verschiedener Fakultäten dabei, eine interdisziplinäre Forschungskooperation ins Leben zu rufen. "In Wien – wo es im Gegensatz zu Berlin einen Lehrstuhl für islamische Religionspädagogik gibt – bietet sich so ein Projekt an, das weit über Österreich hinaus Bedeutung hätte", so der Bildungsexperte.

Historische Videos …


In einer Berliner Lagerhalle wurde historisch wertvolles Videomaterial gefunden: Die Unterrichtsaufzeichnungen aus der DDR hat Henning Schluß aufgearbeitet, digitalisiert und für Interessierte auf einem Bildungsserver kostenfrei zugänglich gemacht:
Videodatenbank Schulunterricht in der DDR



"Die Arbeit an der Universität – und die Freiheit, meine Forschungsthemen selbst zu wählen – sehe ich als Geschenk der Gesellschaft, weshalb ich auch etwas zurückgeben will." In der Lehre sowie im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte findet Schluß die Möglichkeit dafür: "Seit 2002 arbeite ich in verschiedener Kooperationen Unterrichtsaufzeichnungen aus der DDR auf." Diese mittlerweile 400 Videorollen – inzwischen sind auch welche aus Österreich dabei – wurden digitalisiert und können auf einer Internetplattform gratis zu Forschungszwecken heruntergeladen werden. "Im Rahmen der Auseinandersetzung mit diesen einzigartigen historischen Dokumenten sind auch etliche Diplom- und Masterarbeiten entstanden – hier kommen Forschung und Lehre zusammen", freut sich Schluß.


… und pädagogische Räume


Um herauszufinden, wie ein Raum pädagogisch wirkt, gibt es noch relativ wenig Methoden: Im Rahmen einer Exkursion schaute sich Schluß zusammen mit Studierenden unter anderem die räumliche Wirkung des Phönixhof im Burgenland an.



Raum und Pädagogik ist ein weiterer Forschungsschwerpunkt des vielseitigen Wissenschafters: Wie wird der Raum in der pädagogischen Welt mitgedacht und wie wirkt er? Dieser Frage geht er zusammen mit Studierenden im Rahmen von Exkursionen nach: "Wir haben uns z.B. eine Jugendeinrichtung im Burgenland angeschaut und festgestellt, dass sich die Idee des Architekten im pädagogischen Alltag nicht verwirklichen ließ." So sollte eine Kuppel den Kindern als "Indianerzelt" dienen, in dem sie sich untereinander austauschen sollten – diese ziehen dafür aber andere Räumlichkeiten vor. Dass die Vorstellungen der Erwachsenen nicht immer mit denen der Kinder übereinstimmen, weiß der dreifache Vater aber auch aus eigener Erfahrung, wie er abschließend schmunzelnd gesteht. (ps)

Die Antrittsvorlesung von Univ.-Prof. Dr. Henning Schluß, Professor für Empirische Bildungsforschung und Bildungstheorie am Institut für Bildungswissenschaft, zum Thema "Erziehung und Bildung als öffentliche Aufgabe" findet am Mittwoch, 23. Mai 2012 um 17 Uhr im Großen Festsaal im Rahmen des Dies Facultatis der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. Angela Kallhoff vom Institut für Philosophie statt.