Caitríona Ní Dhúill: "Interessanteste Forschung entsteht aus Unbehagen heraus"
| 14. April 2016Utopie vs. Biografie – dieser scheinbare Gegensatz fasziniert die Germanistin Caitríona Ní Dhúill, derzeit Käthe-Leichter-Gastprofessorin an der Uni Wien. Die gebürtige Irin nähert sich ihren Forschungsschwerpunkten vorwiegend über die Gendertheorie.
Die Biografie hat den Anspruch, die sogenannte Wahrheit über eine Person herauszufinden. Utopien hingegen erschaffen Welten, die es gar nicht gibt. "Scheinbare Gegensätze auf den ersten Blick", sagt Caitríona Ní Dhúill, die derzeit die Käthe-Leichter-Gastprofessur an den Instituten für Anglistik, Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien innehat: "Für mich gibt es aber viele Gemeinsamkeiten. So stellen beide Genres einen Versuch der AutorInnen dar, sich selbst und auch die LeserInnen mit fremden Welten zu beschäftigen."
In ihrer letzten Buchpublikation "Sex in Imagined Spaces. Gender and Utopia from More to Bloch", aus dem Jahr 2010, befasst sich Ní Dhúill mit dem Dialog, der Utopien zugrunde liegt, nämlich jenen zwischen "Realitäten" und "Möglichkeiten". Konkret vergleicht die Autorin die Darstellung von Geschlechterrollen in utopischen Werken aus der Feder von SchriftstellerInnen wie Frank Wedekind, Gerhart Hauptmann, Aldous Huxley oder Charlotte Perkins Gilman mit den historischen Geschlechterrollen der Zeit, in der diese AutorInnen lebten und wirkten.
Von der Utopie zur Biografie
Seit 2010 konzentrierte sich die Germanistin, die an der britischen Durham University lehrt, auf die Biografieforschung – womit sie sich intensiv einem Genre widmet, dem sie durchaus kritisch gegenüber steht: "Für mich persönlich entsteht die interessanteste Forschung aus einem gewissen Unbehagen heraus. Dieses Unbehagen gegenüber der Biografie hatte ich anfangs ganz stark, unter anderem da sie als sehr männliches Genre gilt und stilistisch recht uniform sein kann."
Noch dieses Jahr erscheint ihr Werk "Metabiography: Reflecting on Biography" im Verlag Palgrave. Die Metabiografie ist für die Germanistin ein wichtiges Instrument, um sich Biografien zu nähern; sie untersucht und analysiert die Ansichten der BiografInnen selbst, ihren Umgang mit Quellen, ihre jeweiligen subjektiven Zugänge. "Wir stellen uns das Leben als Erzählung vor. Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn wir das nicht tun. So ist auch der Arbeitstitel des Buches entstanden: 'Not on your life'".
Die Ohnmacht von Jane Austen
Caitríona Ní Dhúill gibt ein anschauliches Beispiel, wie sie das "Werkzeug Metabiografie" anwendet: Die englische Schriftstellerin Jane Austen ist bei BiografInnen unglaublich beliebt, allein seit 2000 wurden an die Dutzend Biografien von ihr veröffentlicht. Eine Szene kommt in fast allen Austen-Biografien vor: Jane Austen fällt in Ohnmacht, als ihr mitgeteilt wird, sie müsse im Alter von 25 Jahren vom ländlichen Hampshire nach Bath ziehen. "Wie die jeweiligen BiografInnen diese Anekdote beschreiben und deuten, ist sehr aufschlussreich für den Mentalitätswandel, den die Metabiografie beleuchten will", erklärt die Forscherin: "Ob als Protest gegen eine Umwelt, die ihren Willen als Frau nicht beachte, als Ausdruck der Frustration einer bevormundeten Künstlerin, als Zeichen für ihre Familienverbundenheit – die 'Ohnmacht' wird biografisch und sogar machtpolitisch unterschiedlich interpretiert."
Lange Tradition der Biografie
"Biografien hat es eigentlich immer schon gegeben, denken Sie nur an Grabreden, oder auch das Neue Testament – darin wird ja die Figur des Jesus auch biografisch erfasst", erklärt Ní Dhúill weiter. Die Wissenschafterin ist überzeugt, dass es Biografien immer geben wird, die Faszination daran sei bis heute ungebrochen: "Fakten sammeln, eine Geschichte erzählen, in ein fremdes Leben eintauchen, sich vielleicht darin wiederfinden. Das ist ein Appetit an der Sichtbarmachung des Verborgenen, des Menschen 'hinter' der öffentlichen Person", beschreibt die Wissenschafterin den ungebrochenen Erfolg des Genres.
Potenzial für den Feminismus
Feministische Biografinnen haben sich oft als Retterinnen des Rufs von Frauen gesehen. Auch wenn sich die Quellenlage vielleicht gar nicht geändert hat, werden überlieferte Szenen von ihnen anders interpretiert. Hier zeigt sich dann auch ganz deutlich die Subjektivität eines scheinbar objektiven Genres.
Ein gutes Beispiel, nicht nur in der feministischen Biografie, sei Charlotte Brontë: "Zu ihrer Person gibt es sehr viele Biografien. Das Bild, das sie jeweils von Brontë vermitteln, ändert sich im Laufe der Zeit aber enorm." Wie gehen BiografInnen etwa mit einer Stelle im Tagebuch der Schriftstellerin um, wo sie berichtet, sie hätte sich fast übergeben, als eine Schülerin sie unterbrach und um Hilfe bat, und sie so aus den Höhen literarischer Inspiration auf den Boden der Realität zurück holte? Unterschiedliche Auffassungen von "Charakter" und Lebenssituation der Biografierten, sowie von Produktionsbedingungen der Literatur, kristallisieren um solche Momente.
Zweite Wien-Phase
In Caitríona Ní Dhúills eigener Biografie spielt Wien eine besondere Rolle: Nach ihrer Promotion am Trinity College Dublin in Germanistik, ging Ní Dhúill für vier Jahre nach Wien, wo sie am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie forschte. Über die Einladung, im Sommersemester 2016 als Käthe-Leichter-Gastprofessorin an der Universität Wien zu lehren, freute sie sich sehr: "Ich fühle mich sehr wohl in Wien. Die Stadt ist international und weltoffen." (td)
Caitríona Ní Dhúill, BA PhD, hält ihre Käthe-Leichter-Vorlesung am Mittwoch, 27. April 2016 in der Aula am Campus der Universität Wien zum Thema "Energie und Geschlecht: Zur Poetik der radikalen Haushaltung".
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