Anna Bergmann: Die Gegenwart aus der Geschichte heraus verstehen

Die Kulturwissenschafterin Anna Bergmann hat im laufenden Wintersemester 2011 die Käthe-Leichter-Gastprofessur für Gender Studies inne. Am Dienstag, 15. November 2011, hält sie um 18 Uhr in der Aula am Campus ihre Käthe-Leichter-Vorlesung über "Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder in der westlichen Berichterstattung über den Afghanistan- und Irakkrieg". Die Gastprofessur ist diesmal an zwei Instituten – dem Institut für Europäische Ethnologie und dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte – angesiedelt.

Wien ist für Anna Bergmann kein Neuland. Seit ihrem ersten Lehrauftrag am Institut für Europäische Ethnologie im Jahr 2005 war sie regelmäßig an der Universität Wien beschäftigt. Zuletzt – im Sommersemester 2011 – hielt sie eine Vorlesung über "Gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster der Kindstötung". Die Käthe-Leichter-Gastprofessur ist dennoch etwas Besonderes für die deutsche Wissenschafterin: "Ich empfinde es als eine große Ehre, in diesem Rahmen meine Forschung präsentieren zu dürfen. Nicht nur, weil diese Gastprofessur mit einem bestimmten Profil bedacht ist, sondern auch, weil die Namensgeberin Käthe Leichter damit wieder verstärkt in unser Gedächtnis gerufen und gewürdigt wird."

Enge Verbindung zur österreichischen Genderforschung

Eigentlich ist Anna Bergmann als außerplanmäßige Professorin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) in Deutschland tätig. Aber schon seit 1989 führte sie die Lehre regelmäßig nach Österreich. 1999 erhielt sie zum Beispiel die erste Aigner-Rollett-Gastprofessur für Frauen- und Geschlechterforschung der Karl-Franzens-Universität Graz, es folgten eine Gastprofessur für Geschlechterforschung in Klagenfurt und dann eine Gastprofessur in Innsbruck am Institut für Geschichte und Europäische Ethnologie.

Zu den beruflichen kamen auch private Verknüpfungen: "1984 habe ich auf dem 5. Historikerinnentreffen in Wien meinen zweiten öffentlichen Vortrag gehalten. Das war damals für mich nicht nur sehr aufregend, sondern ich habe dort auch Kolleginnen kennengelernt, die an ähnlichen Themen forschten. Aus diesen Begegnungen sind enge Freundschaften entstanden, die mir bis heute wichtig sind und die ich nicht mehr missen möchte."

Kulturgeschichte im Mittelpunkt der Forschung

In ihrer Forschung beschäftigt sich die 58-Jährige hauptsächlich mit der historischen Geschlechterforschung, Bevölkerungsdiskursen, der Geschichte der Kindheit sowie der Geschichte der Rassenhygiene, Eugenik und Humangenetik. "Vor dem Hintergrund der Kulturgeschichte der modernen Medizin bilden die Zusammenhänge von kulturellen Wahrnehmungsmustern des Körpers, Geschlechtergeschichte und Rassismus meine Schwerpunkte. Auch beschäftige ich mich mit den Beziehungsebenen von medizinischem Wissen und den Alltagspraktiken im Umgang mit Geburt, Sterben und Tod, die in verschiedener Ausprägung auf traditionelle Symbolsysteme zurückgreifen", so Anna Bergmann.

Aktuell arbeitet sie an der Geschichte der Kindheit in der Industriegesellschaft. "In dem Wandel der gesellschaftlichen Vorstellungen über Kindheit sowie von konkreten Kindheitserfahrungen spielen Zusammenhänge von ökonomischen und geschlechterpolitischen Entwicklungen der Mutterschaft und Vaterschaft eine große Rolle. Um diesem Beziehungsgeflecht auf den Grund zu gehen, habe ich für mein aktuelles Forschungsvorhaben unter anderem mit Menschen aus drei Generationen Interviews geführt."

Aha-Erlebnisse erzeugen

"Mich fasziniert immer wieder aufs Neue die Möglichkeit, die Gegenwart aus der Geschichte heraus verstehen zu können. Wenn wir versuchen, ein Phänomen in seinen komplexen Dimensionen interdisziplinär aufzuschlüsseln, gibt es immer einen roten Faden", beschreibt die Kulturwissenschafterin die Begeisterung für ihr Fach. Ihr liegt viel daran, diese auch an ihre Studierenden weiter zu geben: "Mir ist es wichtig, Aha-Erlebnisse zu erzeugen. Wenn das Thema fasziniert, nehmen die StudentInnen mehr als nur eine Note und ECTS-Punkte aus dem Kurs mit."

Musik liegt in der Luft

Das Institut für Europäische Ethnologie in der Hanuschgasse, dem die Käthe-Leichter-Gastprofessur heuer unter anderem zugeordnet ist, ist für die Musikliebhaberin Anna Bergmann der ideale Arbeitsplatz: "Neben der freundlichen und angenehmen Atmosphäre begeistert mich die Lage. Wir haben einen Blick auf die Albertina und auf den Burggarten mit seinen wunderschönen alten Baumbeständen, im daneben liegenden Palmenhaus kann man in an Farben und Mustern vielfältige Schmetterlinge bewundern. Und wir sind umgeben von Musik, denn im dritten Stock befindet sich die Österreichische Gesellschaft für Musik, aus dieser Etage ertönen häufiger Klavier- und Gesangübungen. Gleich um die Ecke befindet sich ja außerdem die Staatsoper – das ist es auch, was ich mit Wien verbinde: diese Präsenz von Musik und Kunst."(mw)


Die Käthe-Leichter-Vorlesung "Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder in der westlichen Berichterstattung über den Afghanistan- und Irakkrieg" von Prof. Dr. phil. habil. Dipl. Pol. Anna Bergmann, die im laufenden Wintersemester die Käthe-Leichter-Gastprofessur für Frauen- und Geschlechterforschung am Institut für Europäische Ethnologie und dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte innehat, findet am Dienstag, 15. November 2011 um 18 Uhr in der Aula am Campus der Universität Wien statt.