Wie China im Zeitalter der Digitalisierung re(a)giert

Data Mining wird von der chinesischen Regierung groß geschrieben. Dass digitale Technologien aber nicht nur zu verstärkter Überwachung und Zensur, sondern auch zu mehr Bürgernähe und weniger Korruption von Seiten autoritärer Regime führt, zeigt der Sinologe Christian Göbel in seinem ERC-Projekt.

In den Tagen vor dem Chinesischen Neujahr, das heuer am 28. Jänner gefeiert wird, häufen sich in der Volksrepublik die Proteste: Vor allem WanderarbeiterInnen gehen kurz vor Jahresende auf die Straße, um ihre Löhne einzufordern. "Bei etwa einem Drittel aller Proteste in China geht es um Löhne. Aber auch Enteignungen bzw. Landnahmen zwingen die Leute, auf die Straße zu gehen", erzählt Christian Göbel vom Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien.

Um sozialer Instabilität entgegenzuwirken, setzen chinesische Lokalregierungen schon seit längerem auf digitale Technologien: Sie stellen öffentliche Plattformen im Internet bereit, wo sich die Menschen über alle möglichen Themen beschweren können – von Korruption bis hin zu Lärmbelästigung. "Und auch die Antworten und Reaktionen der PolitikerInnen sind öffentlich im Internet zu finden", erzählt der China-Experte, der diese großen Mengen an (sozialen) Medien-Daten über Beschwerden und darauffolgenden Gesetzesänderungen mittels Data Mining und Feldforschung sammelt und analysiert.

Christian Göbel ist Sinologe, Politikwissenschafter und Experte für politische Innovation in China. Für sein Forschungsprojekt zu den Auswirkungen des Internets auf Bürgernähe und Regimestabilität in China erhielt er 2015 einen mit rund 1,3 Millionen Euro dotierten ERC Starting Grant. Das Geld wird in Grundlagenforschung investiert werden. Insgesamt gingen bisher 37 ERC Grants an die Universität Wien. (Foto: Barbara Mair/Universität Wien)

Beschwerden aus der Mittelschicht

Göbel geht in seinem hochdotierten ERC-Projekt der Frage nach, warum die chinesische Regierung diese Beschwerden überhaupt erlaubt und welche Auswirkungen die Digitalisierung auf ein autoritäres Regime wie China hat. "Und natürlich auch, ob 'physische Proteste' aufgrund der Beschwerdemöglichkeiten abgenommen haben."

In dieser Hinsicht zeichnet sich laut dem Sinologen eine Tendenz der "Arbeitsteilung" ab: Jene Bevölkerungsgruppen, die Internetzugang haben – also v.a. die Mittelschicht – nutzen die Möglichkeit, sich in den öffentlichen Foren zu beschweren, während der Rest der Bevölkerung nach wie vor auf die Straße geht. "Ob Proteste gar zunehmen werden, weil die Regierung ihre Ressourcen hauptsächlich dafür verwendet, den Bedürfnissen aus der Mittelschicht nachzugehen, werden wir noch genauer untersuchen", so der ERC-Preisträger.

Im Moment haben in China etwa 51 Prozent  der Bevölkerung Internetzugang – in entwickelten Städten wie Shenzhen (Bild) liegt die Zahl bei über 85 Prozent, auf dem Land allerdings noch immer unter 30 Prozent –, wobei die chinesische Regierung schon seit einiger Zeit die abgelegenen Gebiete flächendeckend mit Internet versorgt. (Foto: Brücke Osteuropa/CC0 1.0)

Strategische Problemsetzung und -lösung

Denn den meisten dieser Beschwerden wird von Seiten der Verantwortlichen tatsächlich nachgegangen. Welchen genau, wird strategisch entschieden: Wo profitieren die Regierungen von einer "Problemlösung" und wo ist es klüger, nichts zu tun? Kritik wird bewusst gesteuert: Die Regierung forciert eine bestimmte Politik, z.B. Umwelterziehung, und die Websites ermutigen die Menschen mittels gezielter Information, sich in Bezug auf genau diese Themen zu beschweren – z.B. dass der Nachbar seinen Müll auf die Straße wirft.

Dabei ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Beschwerde nachgegangen wird. "Und zwar öffentlichkeitswirksam: Die Verantwortlichen rühmen sich in Zeitung, Internet und TV, das Problem gelöst zu haben, was wiederum andere dazu ermutigt, sich ebenfalls zu beschweren", beschreibt Göbel den so entstehenden Kreislauf.

Zensur funktioniert wie ein Wasserhahn

Den Regierungen geht es vor allem um ihre Selbstdarstellung: Sie wollen den Eindruck vermitteln, sich um die Anliegen der BürgerInnen zu kümmern. Dabei betreffen die Beschwerden fast ausschließlich öffentliche Leistungen – also Outputs. "Ich kann mich über einen korrupten Schulleiter beschweren, aber ich kann mich nicht über das System an sich bzw. darüber, wie ein Gesetz zustande kommt, aufregen", so der China-Forscher und ergänzt: "Taucht solche System-Kritik dennoch auf, wird natürlich zensuriert. Bei Problemen, die Lokalregierungen betreffen, funktioniert Zensur eher wie ein Wasserhahn, der – je nach Thema – mal mehr und mal weniger fest aufgedreht wird."

Die chinesische Regierung stellt derart viel Information ins Internet, dass viele Menschen gar nicht auf die Idee kommen, dass ihnen andere Information eventuell vorenthalten wird.



Individualisierte Leistungen und gläserne PolitikerInnen


Wenn auch nicht allen Beschwerden nachgegangen wird, wirken sich digitale Technologien dennoch positiv auf die öffentlichen Leistungen aus – nicht nur aufgrund der Beschwerdeplattformen. Denn in Zukunft will die chinesische Regierung ihre Outputs über Data Mining zusätzlich verbessern: Daten sollen zentral gesammelt und analysiert werden, um die Leistungen auf die Bedürfnisse jedes Individuums anzupassen.

"Auch die Korruption wird über Big Data bekämpft: LokalpolitikerInnen, die bisher recht autonom waren, werden zunehmend 'gläsern' und ihr Regieren transparenter", so Göbel und relativiert: "Aber natürlich erleichtern die neuen Technologien auch eine standardisierte Überwachung".

In China wird nicht nur mit moderner Technologie, sondern auch mit Selbstzensur gegen aufmüpfige Internet-UserInnen vorgegangen: So ist eine Art Ausweis für das Internet geplant, damit jede Person nur mit richtigem Namen online agieren kann und zweifelsfrei identifizierbar ist. "Außerdem ist es strafbar, Gerüchte in Umlauf zu bringen – wobei natürlich die Regierung definiert, was ein Gerücht ist und was nicht", so Göbel. (Rainer Sturm/pixelio.de)

Zensur und Öffnung

Die Digitalisierung verändert das politische System Chinas in zwei Richtungen – die neuen Technologien führen einerseits zu mehr Zensur und Überwachung, andererseits aber auch zu einer selektiven Öffnung des Systems: Die chinesische Regierung ist mit der Digitalisierung sozusagen "responsiver" geworden. "Ein Begriff, der bisher nur für demokratische Systeme verwendet wurde", betont der Sinologe. Außerdem habe sich nicht nur der Informationsfluss von der Regierung hin zur Bevölkerung, sondern auch der innerhalb der Bevölkerung verstärkt.

"Unsere Daten zeigen jedenfalls, dass autoritäre Regime im digitalen Zeitalter ganz anders funktionieren als autoritäre Regime früher", ist sich der Forscher sicher. Ob sich das System aber so stark wandelt, dass chinesische WanderarbeiterInnen in Zukunft ihren Lohn auch ohne Proteste erhalten, wird sich noch weisen. (ps)



Univ.-Prof. Dr. Christian Göbel, M.A. ist Professor für Sinologie mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung am Institut für Ostasienwissenschaften. Für sein Forschungsprojekt "The Microfoundations of Authoritarian Responsiveness: E-Participation, Social Unrest and Public Policy in China" erhielt er einen mit rund 1,3 Millionen Euro dotierten ERC Starting Grant. Das Projekt läuft seit Juni 2016 in Kooperation mit verschiedenen chinesischen Universitäten und Forschungseinrichtungen.

VERANSTALTUNGSTIPP:
ERC-Talk: Science & Drinks am Montag, 13. März 2017, 17 bis 19 Uhr.
Im Rahmen der europaweiten ERC-Week zum 10-jährigen Bestehen des European Research Council (ERC), die von 13. bis 19. März stattfindet, veranstaltet die Universität Wien am Dies Academicus in ihren Festsälen den "ERC-Talk: Science & Drinks". ERC-PreisträgerInnen der Universität Wien