Verzerrte Gerechtigkeit – das Rechtsdenken im Nationalsozialismus

Welche normativen Grundlagen hat ein Justizsystem, das Millionen Menschen in den Tod schickt? Ein internationales Team rund um die Philosophin und ERC-Grant-Preisträgerin Herlinde Pauer-Studer wagt den Blick in die Tiefen des NS-Unrechtsdenkens und fördert dabei neue Erkenntnisse zu Tage.

Wer an das nationalsozialistische Terrorregime denkt, sieht zumeist nur absolute Macht, Gewalt und Zerstörung. Doch welche normative Ordnung lag dem totalitären Wahnsinn zugrunde? Wie ist es zu erklären, dass sich ein politisches System derart ungeniert über allgemein anerkannte moralisch-ethische Grundsätze und rechtsstaatliche Prinzipien hinwegsetzen und dennoch rechtlich legitimiert werden konnte?

Herlinde Pauer-Studer vom Institut für Philosophie der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft leitet ein ambitioniertes interdisziplinäres Projekt, das sich dieser bislang unbeantworteten Fragen annimmt. Gemeinsam mit ihrem Team hat sie sich bereits durch Tonnen von teilweise noch unveröffentlichtem Archivmaterial gewühlt, um erstmals auch diese dunklen Flecken der Vergangenheit auszuleuchten. Ihr Fazit: "In der gesamten Menschheitsgeschichte hat es keinen anderen Genozid gegeben, der theoretisch argumentativ besser vorbereitet war als jener des Nationalsozialismus. Wir haben es hier mit einer Verzerrung und Pervertierung moralischer Grundsätze zu tun, die die gesamte Rechtstheorie zum Instrument des Regimes werden lässt."



Der Sammelband "Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten" bündelt und kommentiert Originaltexte, die einen Einblick in das Denken von NS-Rechtstheoretikern geben und belegt deren Versuch, autoritäre und dem Rechtsstaat widersprechende Rechtsprinzipien zu legitimieren. Das Buch wird gemeinsam von Herlinde Pauer-Studer und Julian Fink herausgegeben und erscheint im Juli 2013.



Überraschende Erkenntnisse

Mit dieser wichtigen Erkenntnis hat Pauer-Studer einen Aspekt des NS-Rechtssystems aufgezeigt, der bis jetzt von der rechts- und moralphilosophischen Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist: den Versuch einer "Ethisierung" des Rechts und die damit verbundene Totalisierung des machtstaatlichen Einflusses. "Dieser Punkt ist besonders interessant", so die Philosophin, die 2010 als erste Frau und Geisteswissenschafterin der Universität Wien mit einem prestigeträchtigen ERC Advanced Grant der EU-Kommission ausgezeichnet worden ist: "Die Nazis haben versucht, den Unterschied zwischen Rechtspflichten und ethischen Pflichten zu nivellieren. Dadurch konnte ein stärkerer Durchgriff auf das ethische Bewusstsein und die persönliche Unterwerfung erreicht werden."


Dieser Artikel erschien im aktuellen Forschungsnewsletter.
Lesen Sie auch:
> Der "Sound" des Mittelalters
> Neue Professuren im Dezember
> Drittmittelerfolge für die Universität Wien
> Erfolgreiche NachwuchswissenschafterInnen



Auch ein weiteres Ergebnis der umfangreichen Textrecherche, die die ForscherInnen in Archiven in Wien, Deutschland, Polen und den USA betrieben haben, überrascht: "Wenn man sich das NS-System ansieht, glaubt man in einem ersten Reflex, ein totalitäres Rechtsdenken vor sich zu haben, das zum Machterhalt rein instrumentell gerechtfertigt wird", erklärt Projektmitarbeiter Julian Fink. Erst bei genauerer Betrachtung falle auf, dass dieser instrumentelle Gedanke kaum eine Rolle spielt. Vielmehr wird versucht, eine höhere Rechtfertigung für das eigene pervertierte Rechtsdenken zu finden, die sich auch auf die Geschichte der Philosophie bezieht.

"Man glaubt zunächst, man hat sich verlesen, wenn in diesen Texten auf Namen wie Plato, Aristoteles, Nietzsche oder gar Rousseau verwiesen wird. Diese Denker, die eigentlich in einer klar demokratischen Tradition stehen, wurden von der NS-Justiz als Grundlage für das eigene Unrechtssystem missbraucht", betont Pauer-Studer. Erst diese ideologische Einfärbung rechtstheoretischer Grundlagen habe in Kombination mit dem Vertrauen auf Führer- und Volksgemeinschaftsprinzip die juristische Durchsetzbarkeit des NS-Regimes ermöglicht.


Im ERC-Projekt kooperiert das Wiener Forschungsteam u.a. mit James David Velleman, Department of Philosophy der New York University. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik, Moralpsychologie, Handlungstheorie und -rationalität. "Velleman war im Mai und Juni 2011 als Gastprofessor in Wien", so Projektleiterin Pauer-Studer, die 2009 gemeinsam mit Velleman den Artikel "Distortions of Normativity" im Journal "Ethical Theory and Moral Practice" (14, 2009, 329-356) veröffentlichte. Zurzeit arbeiten die beiden PhilosophInnen am gemeinsamen Buch "'A Fanatic for Justice'. The Case of SS-Judge Konrad Morgen". (Foto: H. Pauer-Studer)



Kritik am eigenen System


Trotz des Versuchs der Nationalsozialisten, jedes noch so kleine Puzzlestück des eigenen verzerrten Rechtssystems zu legitimieren, gab es aber durchaus auch feine Unterschiede zwischen irrationalem und rationalem Denken. "Selbst die fanatischsten Nazis wie Volksgerichtshofspräsident Roland Freisler sind in ihrer Strafrechtskonzeption nicht bis zum äußersten Extrem einer unsinnigen Position gegangen, sondern haben immer wieder Kritik geübt", merkt Pauer-Studer an.

Bei der akribischen Durchsicht unzähliger Originaltexte haben die ForscherInnen auch konkrete Belege dafür gefunden, dass sich einzelne Justizbeamte immer wieder kritisch mit dem eigenen System auseinandergesetzt haben. "Wir sind etwa auf die faszinierende Geschichte des SS-Richters Konrad Morgan gestoßen, der auch unter den pervertierten Bedingungen versucht hat, 'Gerechtigkeit' herzustellen. Zum Beispiel hat er verschiedene KZ-Kommandanten verfolgt und verurteilt. Zwei davon wurden hingerichtet", schildert die Projektleiterin. Nächstes Ziel ist die Veröffentlichung eines Sammelbandes im Sommer 2013, in dem Originaltexte aus der NS-Zeit gebündelt und kommentiert zusammengefasst werden. (ms)

Das ERC-Projekt (Advanced Grant) "Distortions of Normativity" unter der Leitung von Univ.-Prof. Mag. Dr. Herlinde Pauer-Studer vom Institut für Philosophie der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft läuft vom 1. Juli 2010 bis zum 30. Juni 2014. ProjektmitarbeiterInnen sind Dr. Julian Fink, BA Bakk., Dr. Alexandra Couto, Dr. Christoph Hanisch und Mag. Andrea Perchthaler. Internationale Kooperationspartner sind das Center for the Study of Mind in Nature (CSMN) in Oslo und James David Velleman vom Department of Philosophy der New York University.