Unsichtbares sichtbar machen

Manch altes Schriftstück birgt Geheimnisse. Viele überschriebene oder getilgte Handschriften können bis heute nicht gelesen werden. Im neuen universitätsübergreifenden Zentrum CIMA holen PhilologInnen der Universität Wien diese "vergessenen" Schriften mit Hilfe modernster Technologien hervor.

"Wir leben in einer Goldgräberzeit", freut sich Heinz Miklas vom Institut für Slawistik. "Denn erstmals sind wir in der Lage, eine Vielzahl von Palimpsesten auszuheben und ihre getilgten Schriften lesbar zu machen." Palimpseste wurden hergestellt, um Handschriften zu recyceln oder Texte im Laufe der Zeit auszubessern, weil sich das Verständnis der AutorInnen oder die kulturellen und politischen Rahmenbedingungen verändert haben, – Schriften wurden aus den unterschiedlichsten Gründen abgekratzt oder abgewaschen.

Heute können ForscherInnen anhand diverser bildgebender Verfahren (insbesondere Multispektralfotografie und Röntgenfluoreszenzscannen) das einst Unsichtbare wieder sichtbar machen – und so manches über die Jahrhunderte gut gehütete Geheimnis lüften. "Wir arbeiten wie KriminologInnen, die versuchen, aus jedem noch so kleinen oder verrotteten Schriftstück möglichst viel Information rauszuholen", beschreibt Miklas seine Arbeit.

Dreigespann aus Technik, Natur- und Geisteswissenschaften

Der Slawist beschäftigt sich gemeinsam mit der Byzantinistin Claudia Rapp bereits seit vielen Jahren mit verderbten (Anm.: schwer bis gar nicht mehr zu entziffernden) oder wiederbeschriebenen Handschriften, sogenannten Palimpsesten. Ihr Know-How verbinden die PhilologInnen der Universität Wien im Rahmen von CIMA mit der Expertise zweier anderer Fachdisziplinen: der Informatik und der Chemie. In zerstörungsfreien Aufnahme- und Analyseverfahren lassen sich vorhandene chemische Substanzen der Beschriftung und farbiger Dekorationen allein aufgrund ihrer Eigenschaften sichtbar machen bzw. identifizieren.

Die neue interuniversitäre Einrichtung "Centre of Image and Material Analysis in Cultural Heritage" – zwischen Universität Wien, TU Wien und Akademie der bildenden Künste – betreibt im Spannungsfeld von Technik, Natur- und Geisteswissenschaften nicht nur Forschung. "Wir sind gewissermaßen auch eine Dienstleistungseinrichtung und bieten wissenschaftliche Beratung auf diesem Fachgebiet an", erklärt Rapp. Bisher umfasst das Projekt v.a. Pergamenthandschriften des 8. bis 14. Jahrhunderts – später soll die Auswahl jedoch erweitert werden.

Claudia Rapp und Heinz Miklas von der Universität Wien sind zwei von elf WissenschafterInnen im universitätsübergreifenden Projekt CIMA: Hier arbeiten PhilologInnen, ChemikerInnen und InformatikerInnen zusammen, um Verfahren zur Bildgebung und Bildverarbeitung sowie zur chemischen Untersuchung historischer Materialien und deren Veränderungen zu entwickeln.


Von Schuhen und viersprachigen Schriften

Für das einzigartige Service von CIMA wenden sich WissenschafterInnen aus aller Welt an die Wiener ForscherInnen – mit zum Teil kuriosem Material. "Letztens übermittelte uns eine Berliner Kollegin Reste von Schuhen, die im 11. Jahrhundert von innen beschrieben wurden", schmunzelt die Expertin. Welche Botschaft "mittels Schuh" überbracht werden sollte, wird nun untersucht.

Auch ein anderes Schriftstück begeistert die PhilologInnen weniger durch seine Größe, als durch seine Einzigartigkeit: Eine winzige Handschrift, die auf dem Sinai gefunden wurde und medizinische Anweisungen aus dem 11. Jahrhundert enthält, hat in Wien Schicht für Schicht seine Geschichte preisgegeben. "Wir haben nicht schlecht gestaunt, als wir erkannten, dass das Schriftstück dreimal überschrieben wurde: Die oberste Schicht ist glagolitisch, dann haben wir lateinische Buchstaben gefunden, dann wieder Reste einer glagolitischen und schließlich noch einer kyrillischen Schicht! Das ist ein einmaliger Fall und der beste Beweis, dass im Kloster auf dem Sinai die verschiedensten Sprachen und Kulturen koexistierten", freut sich Miklas.

Entwicklung neuer Aufnahmetechnik


Und jedes neu gefundene Schriftstück bringt nicht nur Überraschungen, sondern auch neue Herausforderungen mit sich: Denn je nach Material – ob nun Leder oder Papyrus, Pergament oder Papier –, Größe der Handschrift und den verwendeten Tinten und Pigmenten müssen die WissenschafterInnen das optimale Verfahren finden – oder den optimalen Methoden-Mix. Nicht alle technischen Geräte sind dabei ohne weiteres auch für die zum Teil nur einen halben Millimeter breiten Schriftzeichen geeignet. "Deshalb adaptieren und optimieren wir gemeinsam mit unseren KollegInnen die Technologie speziell für unsere Anforderungen und bauen Geräte auch selber", so Miklas.

Mittels modernster technischer Verfahren machen die PhilologInnen eine verderbte Schrift – wie hier im sogenannten "Missale Sinaiticum" – wieder sichtbar.


Verdichtetes Wissen

Je mehr Material den Wiener WissenschafterInnen zugetragen wird – und sie im Rahmen der verschiedenen Projekte selber sammeln –, desto besser können sie in Zukunft die Grundfragen der Geistes- und Kulturwissenschaften beantworten: Wann und wo ist etwas entstanden? Wie hat es sich entwickelt? Ist es echt oder eine Fälschung? Aus jeder erfolgten Aufnahme bzw. chemischen Untersuchung ziehen die PhilologInnen Grunddaten für ihre Datenbank. "So erhalten wir ein dichtes Netz an Details, das uns hilft, unbekanntes Material einer bestimmten Schule oder Zeit zuzuordnen. Ist z.B. ein spezifisches Material einer illuminierten Handschrift bereits in der Datenbank, können wir schließen, woher oder aus welcher Zeit die Schrift stammt", erklärt Claudia Rapp.

High-Tech-Philologie

Die Byzantistin bedauert, "dass PhilologInnen einen etwas trockenen und verstaubten Ruf haben", glaubt aber, dass sich das noch ändern könnte. "Durch das Projekt wird der Philologie ein wenig 'High-Tech' verpasst." Deshalb sei es umso wichtiger, auch die Studierenden in die laufenden Forschungsarbeiten miteinzubeziehen. "Sie setzen sich mit den neuesten Methoden der Aufnahmetechnik auseinander und erweitern, durch die Arbeit mit physikalischen und chemischen Verfahren, ihre philologischen Skills um den technischen und naturwissenschaftlichen Aspekt", erläutert Rapp.

Das Projekt des interdisziplinären Teams ist bisher weltweit nahezu einzigartig. "Es gibt zwar auch andere Zentren, die ähnliche Arbeit leisten, aber wir sind – v.a. was die chemischen Verfahren angeht – eine Nasenlänge voraus", führt Heinz Miklas aus. "Und sofern die Finanzierung auch über die nächsten drei Jahre hinaus gesichert ist, sind wir bald die erste Anlaufstelle für jegliches handschriftliche Material", sind sich die beiden ExpertInnen der Universität Wien sicher. (ps)

Das interdisziplinäre Forschungszentrum für die Bild- und Materialanalyse von Kunst- und Kulturgut CIMA (Centre of Image and Material Analysis in Cultural Heritage) wurde, basierend auf einer nationalen und internationalen Kooperation im Rahmen des HRSM-Programms (Hochschulraum-Strukturmittel 2013) des Österreichischen BM:WFW zwischen der Universität Wien, der Wiener Akademie der bildenden Künste und der Technischen Universität Wien gegründet.