Solvation Science im Vormarsch

Othmar Steinhauser und sein Team an der Universität Wien mischen im Bereich Solvation Science an der internationalen Spitze mit. Kürzlich lösten die Chemiker ein wichtiges theoretisches Problem – und wurden in die International Faculty des hochdotierten Exzellenzclusters RESOLV aufgenommen.

Die Zeitschrift "Angewandte Chemie International Edition" – eines der wichtigsten internationalen Journals in diesem Fachbereich – widmet den jüngsten Ergebnissen von Othmar Steinhauser von der Universität Wien und Hermann Weingärtner von der Ruhr-Universität Bochum die Titelgeschichte: In der Arbeit stellen die Chemiker eine neue Theorie über die Reichweite des "Nuclear Overhauser Effekts" (NOE) in Lösungen und insbesondere in Ionic Liquids vor. "Unsere Publikation erhielt VIP-Status und eine Grafik daraus wurde zum Coverbild", freut sich Othmar Steinhauser, dessen Forschungsgruppe an der Universität Wien zu den weltweit führenden im vielversprechenden Forschungsfeld "Solvation Science" – Solvatationsforschung – gehört.

Aufnahme in hochdotiertes Exzellenzcluster

Noch mehr freut es den Institutsvorstand aber, dass aus der gemeinsamen Publikation – und den vielen Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit mit der Ruhr-Universität Bochum zuvor – die Aufnahme der Universität Wien in die International Faculty des Exzellenzclusters RESOLV (Ruhr Explores Solvation) hervorgegangen ist. Dieses auf fünf Jahre anberaumte Großprojekt im Bereich Solvation Science wird mit 28 Mio. Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

Die Aufnahme der Universität Wien in die International Faculty von RESOLV beinhaltet neben dem wissenschaftlichen Austausch – mit der Gründung der "International Graduate School Solvation Science" wurde die Möglichkeit für gemeinsame DoktorandInnen geschaffen – auch Kooperationen in der Lehre. So werden künftig Masterstudierende der Ruhr-Universität Bochum für jeweils drei Monate ans Institut für Computergestützte Biologische Chemie der Universität Wien kommen und hier von Othmar Steinhauser und seinen Kollegen Stefan Boresch und Christian Schröder ausgebildet.



Die International Faculty Solvation Science im Exzellenzcluster RESOLV, das an der Ruhr-Universität Bochum angesiedelt ist, besteht aus den weltweit führenden Forschungsgruppen im Bereich Solvatationsforschung. Dazu gehört seit heuer neben Universitäten wie der University of Cambridge oder der ETH Zürich auch die Universität Wien mit dem Institut für Computergestützte Biologische Chemie der Universität Wien unter der Leitung von Othmar Steinhauser.
International Faculty Solvation Science



Was ist Solvation Science?


Solvatation – grob erklärt der Prozess des Auflösens einer chemischen Substanz in einem Lösungsmittel – ist ein besonderer Forschungsschwerpunkt am Institut für Computergestützte Biologische Chemie der Universität Wien. Im Zentrum steht einer der grundlegendsten Prozesse in der Chemie, in der chemischen Verfahrenstechnik und in der Biologie, finden doch viele chemische Reaktionen und fast alle biologischen Vorgänge in flüssiger Phase statt.

Institutsvorstand Othmar Steinhauser erklärt genauer, worüber an der Universität Wien geforscht wird: "Es geht um den Einfluss eines Lösungsmittels (Solvent) auf das Verhalten der gelösten Moleküle (Solute). Die Palette der Solute reicht dabei von einfachen Zuckermolekülen über Chromophore – jener Teil im Farbstoff, der für die Farbigkeit sorgt – bis hin zu Proteinen".

Solvatationsforschung an der Universität Wien

Am Institut für Computergestützte Biologische Chemie wird theoretisch und mit der Computersimulation untersucht, wie sich die Solute verhalten – nicht nur in wässrigen Lösungen und Ionenlösungen, sondern auch in Ionischen Flüssigkeiten (Ionic Liquids), die ausschließlich aus positiv und negativ geladenen Molekülen (Kationen und Anionen) bestehen. "Ihr geringer Dampfdruck macht Ionic Liquids zu besonders umweltfreundlichen Chemikalien im Sinne der Green Chemistry", erläutert Steinhauser.

Dass die Solvatationsforschung boomt – wie die Gründung und großzügige finanzielle Ausstattung des Exzellenzclusters RESOLV durch die DFG zeigen – hat mit der zunehmenden Genauigkeit und Komplexität der experimentellen und computergestützten Methoden zu tun: "Anfangs wurden Solvatationseffekte nur als Nebeneffekte betrachtet", erklärt der Experte, der seit 30 Jahren nahezu lückenlos FWF-Projekte leitet und neben Solvatation schwerpunkmäßig zur Weiterentwicklung computergestützter Methoden forscht.


"Wir entwickeln Algorithmen für Hochleistungs-Computersimulationen, die effizient moderne Computerarchitekturen ausnutzen", so Othmar Steinhauser, im Bild im "Rechenzentrum" am Institut für Computergestützte Biologische Chemie. Hier sind modernste Verfahren im Einsatz, u.a. werden Rechenprozesse direkt über Grafikkarten ausgeführt, was Zeit und Platz spart – und die Forscher arbeiten eng mit dem Supercomputer "Vienna Scientific Cluster" zusammen.
Website von Othmar Steinhauser



Neue Theorie präsentiert


In der aktuellen Publikation im Rahmen des Exzellenzclusters RESOLV präsentieren die Forscher rund um Othmar Steinhauser eine neue Theorie zur Analyse wechselwirkender Kernspins in Lösungsmitteln, die vielfältige Anwendungen – zum Beispiel zur Bestimmung der Wasserstruktur und Wasserdynamik an der Oberfläche von Proteinen oder lokalen Strukturen in neuartigen "Designer-Lösungsmitteln" (den bereits erwähnten Ionischen Flüssigkeiten) – verspricht. Die neue Theorie ermöglicht es, offene Fragen und widersprüchliche Interpretationen sogenannter "NOE-Experimente" in der kernmagnetischen Resonanzspektroskopie (NMR) zu klären. (br)



Nachgefragt: Othmar Steinhauser erklärt die neue Theorie

uni:view: Prof. Steinhauser, was sind NOE-Experimente?
Othmar Steinhauser:
NOE-Experimente gehören zu den wichtigsten Techniken in der kernmagnetischen Resonanzspektroskopie (besser bekannt als "NMR"). Die Methoden der NMR-Spektroskopie beruhen auf der Beobachtung des als "Kernspin" bezeichneten Drehimpulses von Atomkernen, genauer: des mit ihnen verbundenen magnetischen Moments. Dieses macht das Atom zu einem Stabmagneten, dessen Achse sich in einem Magnetfeld ausrichtet, sich aber ansonsten wahllos im Raum orientiert. Die Ausrichtung kann durch elektromagnetische Strahlung im Radiowellenbereich geändert werden. Das daraus resultierende NMR-Spektrum hängt von der Umgebung des Atoms ab und verrät viel über Strukturen und Bewegungen von Molekülen.

uni:view: Wofür wird NMR-Spektroskopie angewendet?
Steinhauser: Die Anwendungen reichen vom Identifizieren von Molekülen in der chemischen Analytik bis hin zum Charakterisieren von großen Molekülansammlungen. Auch MedizinerInnen blicken gerne mit der NMR-Lupe in den Körper, da die Magnetresonanz-Tomographie (Magnetic Resonance Imaging – MRI) auf einem NMR-Experiment beruht. Unter den zahlreichen Methoden nehmen Messungen des NOE eine wichtige Stellung ein. Dieser Effekt beruht auf der Kopplung von Kernspins durch Wechselwirkung ihrer magnetischen Momente. Im selben Molekül ist dieser Effekt sehr "kurzreichweitig" – d.h. er sollte nur benachbarte Kernspins betreffen. Darauf beruhend wurden von der Gruppe um den Schweizer Chemiker Kurt Wüthrich Techniken zur Bestimmung von Proteinstrukturen in Lösung entwickelt.

uni:view: Warum ist es wichtig, diese Techniken zu erweitern und nicht nur die Wechselwirkungen innerhalb eines Moleküls, sondern auch jene zwischen Molekülen zu beobachten?
Steinhauser: Die Beobachtung von Wechselwirkungen zwischen Molekülen verspricht vielfältige Anwendungen, zum Beispiel zur Bestimmung der Wasserstruktur und Wasserdynamik an der Oberfläche von Proteinen oder lokalen Strukturen in neuartigen "Designer-Lösungsmitteln" (sog. Ionischen Flüssigkeiten). In diesen Fällen gehören die Kernspins zu unterschiedlichen Molekülen und können sich relativ zueinander bewegen; ihr Abstand bleibt also nicht konstant. Dies erschwert die theoretische Behandlung, so dass bisher nur Teillösungen erzielt wurden.

uni:view: Das wird sich nun ändern: Sie haben gemeinsam mit Hermann Weingärtner vom Exzellenzcluster RESOLV der Ruhr-Universität Bochum eine neue Theorie aufgestellt. Warum sind die Ergebnisse überraschend?
Steinhauser: Es hat sich herausgestellt, dass die Reichweite des NOE bei Spins in unterschiedlichen Molekülen von der Frequenz der eingesetzten elektromagnetischen Strahlung abhängt. Unter üblichen experimentellen Bedingungen ist der Effekt "langreichweitig". Das wiederum heißt: Die Experimente bilden die Struktur der gesamten Flüssigkeit ab, und nicht wie bisher angenommen nur die nächste Umgebung eines Moleküls. Die neue Theorie ermöglicht es also, seit langem offene Fragen und widersprüchliche Interpretationen derartiger Experimente zu klären.

uni:view: Wie geht es weiter?
Steinhauser: Derzeit werden aufwändige Computersimulationen durchgeführt, um noch detailliertere Einsichten in die Dynamik von Spin-Paaren zu gewinnen, d.h. um zu erfahren, wie diese Paare ihre "Fernbeziehung leben" bzw. wie letztere bei hohen Frequenzen in eine "Nahbeziehung" übergeht.

Die Publikation "From Short-Range to Long-Range Intermolecular NOEs in Ionic Liquids: Frequency Does Matter" (Autoren: S. Gabl, O. Steinhauser, H. Weingärtner) erschien als Titelgeschichte im "Journal Angewandte Chemie International Edition" (Volume 52, Issue 35).