Schrödingers Erbe und sein Fluch

Bisher konnte man die Eigenschaften von Festkörpern nicht exakt berechnen. Die Physiker Georg Kresse und Andreas Grüneis von der Universität Wien entwickelten nun eine effiziente Methode, um einen wichtigen Schritt zur exakten Lösung der Schrödingergleichung zu machen.

Die physikalischen Gesetze könnte man mit dem Schachspiel vergleichen: die Regeln sind einfach, das Spiel jedoch ist sehr komplex. Will man mögliche Züge im Computer vorausberechnen, so steigt der Rechenaufwand mit jedem Spielzug um einen bestimmten Faktor an. Beim Versuch, alle möglichen Züge zu berechnen, stößt man rasch an Grenzen. Überlegt man sich aber eine geeignete Strategie (z.B. wenn man davon ausgeht, dass niemand Züge plant, die ihm selbst schaden), können viel mehr Züge vorausschauend berechnet werden.

Lösung extrem schwierig

Quantenmechanische Berechnungen haben ähnliche Probleme: Die Gleichungen sind einfach und lange bekannt, ihre Lösung jedoch extrem schwierig. Dies gilt auch für die Schrödingergleichung, den zentralen Kern der modernen Physik. Rund 90 Jahre nach ihrer Entdeckung durch den Österreicher Erwin Schrödinger stellt sie selbst für modernste Hochleistungsrechner ein unlösbares Problem dar, wenn es um Systeme mit mehr als zehn bis 20 Elektronen geht. "Der Rechenaufwand wächst rasant mit der Anzahl der zu betrachtenden Teilchen. Selbst wenn die Rechenleistung der Supercomputer von einer zur nächsten Generation um einen Faktor 100 wächst, so kann man mit jeder neuen Generation gerade ein Teilchen mehr beschreiben", erklärt Georg Kresse, Professor für Computergestützte Materialphysik an der Universität Wien.
 
Dieser "Fluch" Schrödingers könnte bald, wenn auch nicht aufgehoben, so doch abgeschwächt werden. Die Wiener Forschergruppe um Georg Kresse, Sprecher des vom FWF finanzierten Spezialforschungsbereiches "Vienna Computational Materials Laboratory" (ViCoM), und Wissenschafter aus Cambridge rund um Ali Alavi haben in den letzten Jahren ein Verfahren entwickelt, um die Schrödingergleichung für Festkörper exakt zu lösen; und das obwohl Festkörper in der Regel eine schier unvorstellbare Anzahl von Atomen und Elektronen enthalten.

Rechenaufwand wächst polynomisch

Bei der in Cambridge entwickelten Methode steigt der Rechenaufwand immer noch exponentiell mit der Anzahl der betrachteten Teilchen – allerdings wesentlich langsamer. Für jedes weitere Teilchen ist nun statt dem hundertfachen nur mehr ein zwei- bis dreifacher Aufwand notwendig. Aber auch damit ist die Größe der betrachteten Systeme auf kleine Moleküle und einfache Festkörper beschränkt. 

Andreas Grüneis, der im Moment von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unterstützt wird, adaptierte nun quantenchemische Verfahren zum ersten Mal für komplexe Systeme wie Festkörper. Der Rechenaufwand für dieses neue Verfahren wächst nicht exponentiell, sondern nur polynomisch mit der Teilchenzahl.

Die "Wiener Methode"

Bisher wurde zur Berechnung der Eigenschaften von Festkörpern fast ausschließlich die sogenannte Dichtefunktionaltheorie eingesetzt, eine Methode des in Österreich geborenen Nobelpreisträgers Walter Kohn, der am 4. Dezember zum Ehrendoktor der Universität Wien ernannt wurde. Diese ist jedoch nicht ausreichend genau. "Die neuen Verfahren können als Benchmark verwendet werden, um die Dichtefunktionaltheorie weiter zu verbessern. Langfristig könnten sie sogar die Dichtefunktionaltheorie zum Teil ablösen. Damit ist ein entscheidender Schritt von unkontrollierbaren Näherungsverfahren zur exakten Lösung der Schrödingergleichung gelungen", freut sich Andreas Grüneis. Hochgenaue Materialsimulationen am Computer, die das Experiment gänzlich ersetzen, sind in Reichweite. Diese "Wiener Methode" könnte in den nächsten Jahren zu einer Revolution in der Physik führen. (af)

Die Publikation "Towards an Exact Description of Electronic Wavefunctions in Real Solids" (Autoren: George H. Booth, Andreas Grüneis, Georg Kresse und Ali Alavi) erschien am 19. Dezember 2012 in "Nature".