Schienen durch die sibirische Abgeschiedenheit

Sibirien ist Faszination und Forschungsgegenstand zugleich für den Kultur- und Sozialanthropologen Peter Schweitzer. In einem aktuellen Projekt untersucht er den Einfluss der rund 3.800 Kilometer langen Bahnlinie Baikal-Amur-Magistrale (BAM) auf die Beziehungen und Mobilität der Bevölkerung.

Bald sind es vier Jahre, dass Peter Schweitzer nach über zwanzig Jahren an der University of Alaska Fairbanks (UAF) an seine Alma Mater zurückkehrte, um am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie eine Professur zu übernehmen. Für ihn ist seine Heimkehr an die Universität Wien nicht nur räumlicher Natur, sondern auch inhaltlich ein "Zurück zu den Wurzeln". "Die letzten zehn bis 15 Jahre habe ich primär zu Alaska gearbeitet, ursprünglich bin ich aber Spezialist für Nordost-Sibirien", so Schweitzer: "Und ich freue mich, wieder in Sibirien zu forschen. Diese Gegend bietet einfach andere Möglichkeiten als Alaska aufgrund der größeren Variationsbreite an sozialen Konstellationen."

Die Eigendynamik von Infrastruktur

In seinem laufenden FWF-Projekt verfolgt Schweitzer einen neuen Forschungsansatz innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie: "Anthropologie ist die Kunde vom Menschen, aber in den letzten Jahren haben sich neue Ansätze etabliert, die 'über den Menschen' hinausgehen. Dazu gehört etwa die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen Menschen und Tieren bzw. Pflanzen oder – und dazu arbeiten wir im aktuellen Projekt – wie Infrastruktur den Menschen beeinflusst."

Konkret untersuchen Peter Schweitzer und sein vierköpfiges, internationales Team die rund 3.800 Kilometer lange Bahnlinie Baikal-Amur-Magistrale (BAM) quer durch Sibirien, die nördlich – ungefähr parallel – der Transsibirischen Eisenbahn verläuft. Im Fokus der Forschung steht die sogenannte "Agency" der Infrastruktur – also die Frage: "Was kann Transportinfrastruktur bewirken?"

"Wir sehen die Konstellation Eisenbahnlinie-Mensch-Umwelt sowie die Infrastruktur selbst – also die Schienennetze, Häuser und Siedlungen entlang der Strecke – als ein Ensemble von Wirkungsketten, die eine gewisse Eigendynamik entwickeln. Und diese Dynamik wollen wir verstehen", erklärt Kultur- und Sozialanthropologe Peter Schweitzer. Das Foto zeigt ein Denkmal an einen BAM-Bahnhof. (Foto: Peter Schweitzer)

Jung und einsam

Zwei Faktoren machen es für den Sibirien-Experten besonders interessant, die BAM zu untersuchen. Zum einen ist sie eine relativ junge Bahnlinie – erst 1974 wurde mit dem Bau begonnen – und zum zweiten führt sie durch eine Gegend, in der es kaum alternative Transportwege gibt. "Das kann man sich ungefähr so vorstellen, als würde es in ganz Österreich nur eine einzige Straße geben."

Wenn unter solchen Bedingungen der Abgeschiedenheit – die WissenschafterInnen sprechen von "Remoteness" – eine neue Transportinfrastruktur installiert wird, verändere sich das Leben der Menschen, erklärt Schweitzer: "Und diese Veränderung können wir natürlich viel eindeutiger sehen und erforschen, als etwa den Effekt einer zusätzlichen Bahnlinie in einem Land mit dichter Transportinfrastruktur wie z.B. Österreich."

Die Errichtung der BAM war ein massives Propaganda-Ereignis. Begonnen unter Breschnew war der Bau der Bahnlinie ein großes Unterfangen des Spätsozialismus. "Damals ging es darum, tausende Arbeitskräfte zu rekrutieren, und das wurde mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Bezahlung bewerkstelligt", erzählt der Kulturanthropologe: "Das Motto lautete 'Wir bauen den Sozialismus'." Das Foto zeigt den Hauptplatz in Tschara. (Foto: Peter Schweitzer)

Die Menschen entlang der Bahn

Vor dem Bau der Bahn war das sibirische Gebiet vor allem von Ewenken und anderen tungusisch-sprachigen Gruppen besiedelt, indigenen Gruppen, die traditionell vor allem Jagd und Kleinherden-Rentierhaltung betrieben. Heute sind sie in die Minderheit in der Bevölkerung entlang der BAM und stehen dieser großteils skeptisch gegenüber: "Sie sehen den Bau als Naturzerstörung und betrachten die Ankunft von immer mehr Russen kritisch", erzählt der Projektleiter von den Forschungsergebnissen.

Die Mehrheit der Bevölkerung besteht aus BAM-ArbeiterInnen und deren Nachfahren, die dem multiethnischen Gemisch der ehemaligen Sowjetunion entstammen. Obwohl zahlreiche Mitglieder dieser Gruppe in den 1990er Jahren wieder abgewandert sind, sind auch viele geblieben. Eine dritte Gruppe bilden postsowjetische Neuankömmlinge, die vor allem im Handel und Servicesektor tätig sind.

Denkmal für die Erbauer der BAM in Sewerobaikalsk, zweitgrößte Stadt der Republik Burjatien. (Foto: Peter Schweitzer)

Nun zeigen die Ergebnisse der Wiener SozialanthropologInnen, dass eine vierte Gruppe bisher weitgehend übersehen wurde: "Obwohl wir natürlich wussten, dass es schon vor 1974 Dörfer und Kleinstädte mit nicht-indigener Bevölkerung gab – vor allem seit den 1950er Jahren war die Erschließung des Nordens staatlicherseits intensiviert worden –, sind die Stimmen dieser Gruppe durch die Propaganda und Euphorie des BAM-Projekts weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt worden", so Schweitzer: "Es scheint, dass diese Menschen der BAM und der damit verbundenen Erschließung des Gebiets nicht sehr positiv gegenüber stehen – ähnlich wie die Indigenen."

Zug-Gespräche

Für ihr Forschungsprojekt verbringen Peter Schweitzer und sein Team viel Zeit im Zug – es ist keine Seltenheit, dass sie auf Reisende treffen, die bereits seit Tagen im Zug sitzen, um z.B. auf Urlaub ans Schwarze Meer zu fahren. Wenig verwunderlich also, dass eine der wichtigsten Forschungsmethoden das qualitative Interview ist. Dazu arbeiten die ForscherInnen unter anderem mit digitalen Fragebögen am Tablet: "So können wir die Daten gleich beim nächsten Wifi-Empfang an die Zentrale an der Universität Wien senden."

Die Karte zeigt die Hauptstrecken der russischen Bahnlinien. Grün: Baikal-Amur-Magistrale, Orange: Amur-Jakutische Magistrale, Rot: Transsibirische Eisenbahn, Blau: bis 1930 benutzte Streckenführung der Transsib westlich Omsks, Schwarz: Südvarianten der Transsib-Strecke.(Foto: Wikipedia / Stefan Kühn)

Abgefragt werden z.B. die Mobilitätsgründe bzw. -gewohnheiten der Reisenden; im Fokus steht die Auswirkung der BAM auf die geographische Mobilität und die sozialen Beziehungen der Menschen. "Die BAM erschließt die Gegend, und der Moment der Abgeschiedenheit wird dadurch verringert. Aber gleichzeitig ist klar, dass diese Bahnlinie im fernen Ostsibirien nicht wegen der Menschen, sondern wegen des Zugangs zu Rohstoffen gebaut wurde", so der Projektleiter abschließend: "Somit ist klar, dass diese Verringerung von Remoteness ein ambivalenter Prozess ist, der für unterschiedliche Gruppen jeweils unterschiedliche Vor- und Nachteile mit sich bringt." Diese genauer zu erforschen, wird das Thema der zweiten Projekthälfte sein. (td)

Das FWF-Projekt "Konfigurationen von 'Remoteness': Verschränkungen von Mensch und Transportinfrastruktur" (CoRe-Projekt) unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Peter Schweitzer startete im Juli 2015 und läuft bis Juni 2018. ProjektmitarbeiterInnen sind Mag. Christoph Fink, Cand. Sc. Olga Povoroznyuk, Mag. Dr. Gertrude Saxinger und Mag. Sigrid Schiesser.