Präsentation: Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer

Barry McLoughlin von der Universität Wien präsentiert am Mittwoch, 19. Juni 2013, gemeinsam mit Co-Autor Josef Vogl das Gedenkbuchbuch der österreichischen Stalin-Opfer "... Ein Paragraf wird sich finden". Von 769 ermittelten ÖsterreicherInnen studierten 23 an der Universität Wien.

"Wer die Geschichte des 20. Jahrhunderts begreifen will, muss sich mit dem Gewaltsystem des Stalinismus auseinandersetzen", erklärt der Historiker Barry McLoughlin von der Universität Wien, der gemeinsam mit Josef Vogl 769 ÖsterreicherInnen ausgeforscht hat, die dem Stalinismus zum Opfer fielen. Im Zuge dieser Recherchen konnten die Wissenschafter so manches unbekannte Schicksal klären und verschollenes Archivmaterial bergen. So entdeckte McLoughlin bei der Aushebung des Kaderaktes von Hildegard Mraz (Kurzbio siehe Kasten unten) 1992 in Moskau einen Teil ihres Eigentums in den dicken Mappen: ihre Fotoalben, die 1945 vom NKVD (sowj. Innenministerium) konfisziert wurden.



Hildegard Mraz, 1911 in Siebenhirten (damals noch NÖ) geboren, studierte nach ihrer Matura 1930 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Mraz war ab 1928 Mitglied der SAJ Meidling, 1934 wurde sie Mitglied der KPÖ. Sie nahm 1934 als Kurier an den Februarkämpfen teil und gelangte im selben Jahr mit dem ersten Schutzbundtransport nach Moskau. Im zweiten Weltkrieg fiel sie 1944 in Wien (ihrem Einsatzort im Auftrag der Sowjetunion) in die Hände der Gestapo, 1945 kam sie frei, als die Gestapo flüchtete. Zurück in Moskau wurde sie sofort verhaftet. Der Grund: die Gestapo-Haft zu überleben. Sie wurde wegen Landesverrat angeklagt und zu acht Jahren Lager verurteilt. Ende der 1950er Jahre kehrte sie nach Wien zurück, wo sie 1997 starb.



Das ist nur einer der "Schätze", die der Historiker im Laufe seiner Forschungstätigkeit und Recherchen zum Thema ausgehoben hat. Für ihn persönlich ist die Publikation der 769 Opferbiographien samt wissenschaftlichem Text der Schlusspunkt von 20 Jahren Recherchen, die er großteils im Zusammenarbeit mit dem Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands durchgeführt hat.

Von Österreich in die Sowjetunion

Tausende ÖsterreicherInnen lebten in den 1920er und -30er Jahren in der Sowjetunion. Viele ehemalige Kriegsgefangene blieben freiwillig und gründeten eine Familie. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise emigrierten zahlreiche Arbeitslose in die Sowjetunion, Techniker und Ingenieure wurden von sowjetischer Seite aktiv angeworben. KommunistInnen wurden von der Partei zu Schulungszwecken nach Moskau entsandt. Schließlich flüchteten nach dem Februar 1934 etwa 750 Schutzbündler über die Tschechoslowakei in die Sowjetunion.



Hugo Huppert, 1902 in Bielitz, Schlesien geboren, zog 1920 nach Wien, um an der Universität Wien Staatswissenschaften zu studieren. Er promovierte 1925 bei Hans Kelsen und zog anschließend zu weiteren Studien kurzzeitig nach Paris. Zurück in Wien wurde er als Mitglied der kommunistischen Studentenfraktion 1927 nach den Juliereignissen kurzzeitig verhaftet. 1928 emigrierte er in die UdSSR, wo er wegen "lügenhafter Verleumdungen" aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Kurz darauf wurde er verhaftet und schwer gefoltert. 1939 wurde die Einstellung des Verfahrens beschlossen. Huppert starb 1982 in Wien.



Das Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer behandelt das Schicksal jener ÖsterreicherInnen, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion Opfer der stalinistischen Repressionen wurden, indem sie verhaftet, gefoltert, in Zwangsarbeitslager eingewiesen oder erschossen wurden. Erfasst sind Personen, die einen engen Bezug zum Staatsgebiet der Ersten Republik hatten, auch wenn einige formal nicht österreichische Staatsbürger waren.


Boris Brainin, 1905 in Mykolajiv (Ostgalizien) geboren, studierte Deutsch und Geographie an der Universität Wien, wo er am 6. Februar 1934 promovierte. 1931 trat er in die KPÖ ein und war Funktionär des KJV in Hernals. Kurz nach seiner Promotion flüchtete er in die UdSSR. Dort wurde er 1936 verhaftet, u.a. der antisowjetischen Propaganda bezichtigt und zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. 1992 kehrte er mit Hilfe des damaligen Bürgermeisters Helmut Zilk nach Wien zurück, wo er 1996 starb.


Absurde Spionagevorwürfe

Festgestellt wurden bisher 769 Fälle von Verhaftungen, davon waren 23 Stalin-Opfer AbsolventInnen bzw. StudentInnen an der Universität Wien. Alle von Barry McLoughlin, Josef Vogl und MitarbeiterInnen des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands in jahrelanger Forschung aufgearbeiteten Schicksale finden sich in Form von Kurzbiografien und Fotos im Gedenkbuch. Das Vorwort stammt von Bundespräsident Heinz Fischer.



Franz Quittner, 1904 in Wien geboren, studierte Physik an der Universität Wien. Seine Dissertation 1927 behandelt "Die elektrolytische Leitung des Glases bei hohen Feldstärken". Bis zu seiner Ausreise 1930 nach Moskau war Quittner als Assistent am Physikalischen Institut der Universität Wien beschäftigt. Er war in kommunistischen Studentenorganisationen aktiv und seit 1926 Mitglied der KPÖ. Sein Professor wurde von der Polizei unter Druck gesetzt, Quittner zu entlassen. In Moskau blieb er erfolgreich in der Forschung, bis er im März 1938 wegen Spionage für Österreich verhaftet, am 22. Mai zum Tode verurteilt und am 31. Mai 1938 in Butovo bei Moskau erschossen wurde.



In den allermeisten Fällen wurden die Verhafteten mit dem absurden Vorwurf der Agententätigkeit für Österreich, Deutschland – fallweise auch andere Länder – konfrontiert, der in keinem einzigen Fall belegt ist. Oft wurde zusätzlich der Vorwurf der antisowjetischen Agitation erhoben, wofür schon die geringste Kritik am System ausreichte, wenn sich ein Denunziant fand. Mehr als ein Drittel der Verhafteten wurde zum Tode verurteilt und erschossen, mehr als 80 weitere ÖsterreicherInnen kamen in der Haft ums Leben. An die 100 Verhaftete wurden nach oft jahrelanger Untersuchungshaft freigelassen, in der Folge meist ausgewiesen. (td)



Über die Autoren: Der gebürtige Ire Barry McLoughlin vom Institut für Geschichte der Universität Wien promovierte 1990 an der Universität Wien und habilitierte sich 2001 mit Publikationen zur Kommunistischen Internationale und des Stalinismus. Als freier Mitarbeiter ist er auch eng mit dem DÖW verbunden. Co-Autor Josef Vogl ist am DÖW tätig und studierte Slawistik und Politikwissenschaft an der Universität Wien, wo er 1982 promovierte.



Buchpräsentation "... Ein Paragraf wird sich finden": Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945)
Mittwoch, 19. Juni 2013, 18.30 Uhr
Universität Wien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
Währingerstraße 29, 1090 Wien
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