Papst im Wolfspelz

Im Katharinenkloster auf dem Sinai wurden 1975 zahlreiche Handschriften, darunter auch altslawische aus dem 11. Jahrhundert gefunden. An sich schon ein spektakulärer Fund – wäre da nicht noch die Tatsache, dass diese Schriften in Glagoliza – der ältesten slawischen Schrift – verfasst wurden. Wie kommen diese glagolitischen Handschriften auf den Sinai? Und warum wird Papst Gregor VII. darin als "Wolf" bezeichnet? Dieser Frage – dem Rätsel der sinaitischen glagolitischen Tradition – geht der Philologe Heinz Miklas in seinem aktuellen FWF-Projekt auf den Grund. Dabei leistet er Detektivarbeit: In jedem noch so kleinem Detail könnte der Schlüssel liegen.

Zwei der sechs Handschriften aus dem Katharinenkloster – das Euchologium Sinaiticum und das Missale Sinaiticum – hat Heinz Miklas vom Institut für Slawistik bereits untersucht. Da dieselben Schreiber in mehreren Schriften ihre Spuren hinterlassen haben, dürfen sie nicht unabhängig voneinander untersucht werden. Deshalb widmet sich Miklas nun einer dritten Schrift vom Sinai: dem Psalterium des Demetrius. "Dabei handelt es sich um ein liturgisches Textbuch, dessen leere Seiten vom Mönch Demetrius mit Gebeten und Texten beschrieben wurden."

Flucht auf den Sinai

Die Frage, wie die glagolitischen Handschriften auf den Sinai kommen, steht im Zentrum des Forschungsprojekts: Da es sich um Handschriften für die zeremonielle Gestaltung des Gottesdienstes  handelt, liegt der Schluss nahe, dass sich die Schreiber für längere Zeit auf dem Sinai niedergelassen haben. Außerdem gibt es Hinweise, dass sie aus ihrer Heimat geflohen sind. "Wir wissen, dass die Verfasser der Handschriften zum Teil aus Bulgarien und dem Gebiet des ehemals Großmährischen Reich stammten. Eine dritte Gruppe – zu der auch Demetrius gehört – gibt uns noch Rätsel auf: Sprachliche, paläographische und kodikologische, also handschriftenkundliche Merkmale deuten auf den westlichen Balkan. Demetrius selbst stammte wahrscheinlich aus dem heutigen Montenegro", vermutet Miklas.

Verdrängung des Slawischen

Eine Erklärung für die Emigration der Mönche auf den Sinai bietet die politische Situation in Bulgarien des 10. und 11. Jahrhunderts: Die Byzantiner verdrängten dort die slawische Sakralsprache zugunsten des Byzantinisch-Griechischen. Zudem kam es im 11. Jahrhundert in Rom zu einer entscheidenden Wende: Nach der Synode in Split von 1060, bei der das Slawische als dritte liturgische Sprache hinter das Griechische und Lateinische gereiht wurde, kam es zu einer weiteren Verschärfung unter Papst Gregor VII.: Zwischen 1073 und 1085 sollte das Lateinische zur einzigen zugelassenen Kirchensprache werden. "In dieser Zeit entstanden auch die Einträge in unserem Psalterium", so Miklas. Die Zurückdrängung der altslawischen Liturgie sowie Missstände in den Klöstern bewogen viele Mönche dazu, in den Orient – die "Wiege des Eremitentums" – zu fliehen.

Kritische Mönche

In der Handschrift von Demetrius stieß Miklas auf eine rätselhafte Namensliste: Es handelt sich um Zeitgenossen und Heilige mit einer Vorbildfunktion für den Mönch. Mit dabei ein Bischof, der sich im 6. Jahrhundert für die Wiedervereinigung seines Patriarchats eingesetzt hat: Das spricht für die konfliktgeladene Situation zwischen prolateinischen und proslawischen Gruppen zu Demetrius’ Lebenszeiten.

In einem (paraliturgischen) Gebet des Mönchs hat Projektmitarbeiterin Dana Hürner Allegorien mit gesellschaftskritischem Hintergrund entdeckt: "Das ist sehr ungewöhnlich für die altkirchenslawische Literatur. In liturgischen Originalschriften dieser Zeit wurden bisher kaum gesellschaftskritische Ansätze gefunden, was auf eine Tradition außerhalb der Norm hindeutet." Demetrius schreibt über einen Wolf, der sinnbildlich für Papst Gregor VII. steht und kritisiert damit die zentralistische Sprachpolitik des Kirchenoberhaupts. Der Hinweis, dass der Wolf gerade gefangen sei, bringt Miklas auf eine weitere Spur: "Gregor verschanzte sich zwischen 1083 und 1084 im Mausoleum des Hadrian – der heutigen Engelsburg", erklärt der Projektleiter: "In der Zeit muss Demetrius das Gebet geschrieben haben."

Ein Projekt – drei Ziele

Gemeinsam mit ComputerexpertInnen und ChemikerInnen der Technischen Universität Wien sowie der Akademie der Bildenden Künste wertet Miklas über 20 – teils fragmentarische – Handschriften aus und prüft die Zusammenhänge. Neben deren Edition will er als "Nebenprodukt" neue Methoden zur Erforschung von Handschriften erarbeiten: "Wir haben bereits ein neues Verfahren entwickelt, das auf der Basis philologischer Merkmale den Datierungs- und Lokalisierungsvorgang automatisiert."

Doch in erster Linie verschafft ihm des Rätsels Lösung Einblicke in kulturelle und kirchenpolitische Gegebenheiten der damaligen Zeit: "Die Handschriften sind mit einem Wespennest vergleichbar – im positiven Sinne: Man sticht irgendwo hinein und plötzlich schwirren unzählige Informationen heraus." (ps)

Univ.-Prof. Dr. Heinz Miklas ist Leiter des FWF-Projekts "Das Rätsel der sinaitischen glagolitischen Tradition", das von 1. Februar 2011 bis 31. Jänner 2014 läuft. Er arbeitet in Zusammenarbeit mit seiner Projektmitarbeiterin Dana Hürner vom Institut für Slawistik sowie in Kooperation mit der Technischen Universität Wien sowie der Akademie der bildenden Künste.

Dieser Artikel erscheint als Gastbeitrag von "uni:view" auch im aktuellen "univie", dem Magazin des Alumniverbandes (demnächst online!).