Mobilität transdisziplinär erforschen

Die neue Forschungsplattform "Mobile Kulturen und Gesellschaften" der Universität Wien widmet sich dem Phänomen der Mobilität aus unterschiedlichen Perspektiven – ein Thema, das durch gegenwärtige Fluchtbewegungen aktueller denn je ist.

Menschen auf der Flucht oder Kino der Revolution – das sind nur zwei aktuelle Themen im Bereich der Mobility Studies, die nun erstmals vernetzt werden: in der Forschungsplattform "Mobile Kulturen und Gesellschaften" der Universität Wien. Mit dabei sind ForscherInnen aus sieben verschiedenen Instituten, die das Phänomen der Mobilität interdisziplinär betrachten. "Das Besondere an der Forschungsplattform ist die Zusammenführung philologisch-kulturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Projekte", betont Annegret Pelz vom Institut für Germanistik, stv. Leiterin der Plattform.

Die Forschungsplattform "Mobile Kulturen und Gesellschaften. Interdisziplinäre Studien zu transnationalen Formationen" unter der Leitung von Elisabeth Büttner besteht aus fünf Teilprojekten der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät (Theater-, Film- und Medienwissenschaften, Germanistik, Afrikawissenschaften, Anglistik und Amerikanistik, Musikwissenschaft) und der Fakultät für Sozialwissenschaften (Politikwissenschaft, Internationale Entwicklung). Zudem aus vier assoziierten Mobilitätsprojekten der Universität Wien. Mit dem Instrument der Forschungsplattformen fördert die Universität Wien besonders innovative fächerübergreifende Forschungsvorhaben.


Von unbegleiteten Flüchtlingen bis zum algerischen Kino

Aus dieser interdisziplinären Bündelung ergibt sich eine Perspektivenvielfalt und ein breites Themenspektrum: Die ForscherInnen der Plattform setzen sich z.B. mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und migrantischen Unternehmerinnen in Wien auseinander. Auch Mobilitätsthemen außerhalb Österreichs werden in den Blick genommen: Hier geht es etwa um die afrikanische Diaspora in Marseille und Lissabon und um das algerische Kino der Revolution.

Ein weiteres Beispiel ist das Teilprojekt "Constituting Global Convivence", in dem Alben, Freundschafts- und Erinnerungsbücher aus literatur- und musikwissenschaftlicher Perspektive erforscht werden. "Alben, wie jenes der Schriftstellerin Betty Paoli, gelten als 'Buchgeschöpfe aus Grenzgebieten' und als 'Nomaden auf dem Regal', da sie nicht in die Systematik der Bibliothek passen und auch nicht am Ort gelesen, sondern durch den Raum bewegt werden", erklärt Annegret Pelz. Die untersuchten Räume reichen von der einzelnen Buchseite bis zu transarealen Gemeinschaften und umfassen einen historischen Zeitraum vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart. 

Wie tragen mobile Sammelbücher – wie das Album von Betty Paoli im Bild (Quelle: Wienbibliothek im Rathaus, Foto: Annegret Pelz) – zur Entstehung von Tatsachen, Konstellationen und Netzwerken bei? Das wird u.a. im Teilprojekt "Constituting Global Convivence" untersucht. Weitere Informationen


Viele Disziplinen, ein Mobilitätbegriff

Die vielen Mobilitätsprojekte stellen die Plattform vor die Herausforderung transdisziplinären Forschens: Der Mobilitätsbegriff wird in den unterschiedlichen Disziplinen und historischen Perioden anders verwendet, muss nun aber für die Plattform produktiv gemacht werden: "Wir sehen Mobilität nicht als Ausnahmeerscheinung, sondern gehen von einer grundsätzlichen Durchlässigkeit von Kulturen und Gesellschaften aus, die in einer vernetzten und beschleunigten Welt immer beweglich sind", betont Germanistin Pelz.

Gemeinsam den analytischen Blick schärfen

Dabei erleben die Mitglieder der Plattform, wie die Erforschung von Mobilitäten die eigenen fachlichen Traditionen in Frage stellt: "Wir analysieren kulturelle und soziale Prozesse, die die tradierten Begrifflichkeiten in Frage stellen. Wir treffen uns inhaltlich bei den Ursachen, Effekten und Imaginationen von Mobilität. Wir diskutieren Gegebenheiten, die ständig über den Rahmen des Bildes hinausgehen und lernen im disziplinären Mit- und Gegeneinander, den analytischen Blick zu schärfen", erklärt Pelz.

Ein Blick in die Zukunft

Auch in Zukunft wird man einiges von der Forschungsplattform hören: Neben einer Graduiertenkonferenz zu kleinen, künstlerisch-politischen Formen der "Resistance", die Ende November stattfindet, steht im Februar 2016 eine Konferenz zu "Maritime Mobilities" an. Letztere wird von Alexandra Ganser vom Institut für Anglistik und Amerikanistik organisiert; es spricht u.a. die Soziologin Mimi Sheller (Drexel University, USA), eine der führenden Mobility-ForscherInnen.

Es folgen Konferenzen zu "Figurationen des Archivs" und über das Verhältnis von "Medialität und Mobilität". Ein Ausgangspunkt hierbei ist die Beobachtung, dass das Smartphone aktuell vielen Menschen als Fluchthelfer dient: Standorte werden lokalisiert, Fluchtrouten geplant und Informationen zum Zielland abgerufen. Die Mitglieder der Forschungsplattform werden diese technische Dimension der gegenwärtigen Fluchtbewegung zum Anlass nehmen, um die Funktion mobiler Archive und medialer Netzwerke zu diskutieren und historisch zu perspektivieren. (red)

Die Forschungsplattform "Mobile Kulturen und Gesellschaften. Interdisziplinäre Studien zu transnationalen Formationen" unter der Leitung von Elisabeth Büttner und Co-Leitung von Annegret Pelz, läuft seit 2014 und wurde zunächst für drei Jahre bewilligt. ProjektpartnerInnen, die Teilprojekte leiten, sind Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Büttner (Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft), Univ.-Prof. Dr. Annegret Pelz und Mag. Marianne Windsperger (Institut für Germanistik), Univ.-Prof. Dr. Petra Dannecker (Institut für Internationale Entwicklung), Ass.-Prof. Mag. Dr. Birgit Englert (Institut für Afrikawissenschaften), Univ.-Prof. Dr. Birgit Sauer (Institut für Politikwissenschaft).