"Meine Forschung": Zwischen Kalaschnikow und Bücherregal
| 18. Juli 2014Das Hochsicherheitsgefängnis Maze wurde zum düsteren Symbol der "Troubles" – des Nordirlandkonflikts. An genau diesem Ort haben IRA-Gefangene eine umfangreiche Bibliothek aufgebaut. Wie Lernen in Haft die Politik in Freiheit beeinflusst, untersucht der Dissertant Dieter Reinisch an der Universität Wien.
Im Sommer 2000 brachte die Leiterin der Politischen Sammlung der Belfaster Stadtbibliothek Linen Hall, Yvonne Murphy, sieben große Kartons mit Büchern aus dem Hochsicherheitsgefängnis Maze nach Belfast. Darin befanden sich 1.700 Bücher – ein Judo-Kursbuch zwischen Werken von Frantz Fanon und Mao Tse-Tung, ein Weinbau-Grundkurs zwischen Reden Fidel Castros und James Joyces "Dubliner". Es waren die Reste der Gefängnisbibliothek des britischen Hochsicherheitsgefängnisses Maze, 20 Meilen westlich von Belfast.
Bibliothek mit 16.000 Büchern
Auf ihrem Höhepunkt soll die Bibliothek über 16.000 Bücher umfasst haben. Im Jahr 2000 wurde Maze geschlossen. "Den Großteil der Bücher haben die freigelassenen Insassen mitgenommen", erzählt der junge Historiker Dieter Reinisch, Dissertant und Lehrbeauftragter am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien.
Die halbrunden Wellblechhütten, in denen bis zu 40 Gefangene lebten, wurden Ende der 1970er Jahre durch H-förmige Betonblöcke ersetzt. 1981 starben hier Bobby Sands und neun weitere Gefangene im Zuge eines Hungerstreiks. Sie hatten von der Gefängnisverwaltung verlangt, als politische Gefangene behandelt zu werden. Als Long Kesh, das offiziell HMP Maze hieß, geschlossen wurde, waren bis dahin knapp 30.000 Personen in Nordirland verhaftet und interniert worden.
Lernen in Haft, Politik in Freiheit
Viele der in den 1970er Jahren Internierten blieben bis zu zwei Jahrzehnte in Haft. "In ihrem Gefängnisalltag spielte die Bildung eine zentrale Rolle. In den Einzelzellen war das Lesen oft die einzige Möglichkeit den Tag zu verbringen", so Dieter Reinisch, der sich dafür interessiert, welchen Einfluss das "Lernen in Haft" (Staidéar faoi ghlas) auf die "Politik in Freiheit" (Polaitíocht taobh amuigh) haben kann.
Denn über die Jahrzehnte entstand in Maze eine Gefängnisbibliothek, die knapp 16.000 Bücher und Pamphlete umfasste. "In Kleingruppen diskutierten die Gefangenen das Gelesene und gaben politische Schriften weiter. Daraus entwickelten die republikanischen Gefangenen neue politische Sichtweisen, die sie oft verschriftlichten und auf winzigen "teachtaireachtaí" – Kommuniqués – aus dem Gefängnis schmuggelten", erklärt Reinisch.
Im uni:view-Dossier "Meine Forschung" stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.
Noch nie ein Buch gelesen
Studien zeigen, dass 64 Prozent der Inhaftierten jünger als 21 Jahre waren, als sie erstmals verhaftet wurden. Drei Viertel der Gefangenen verbrachten mehr als fünf Jahre in Haft, ein Fünftel sogar mehr als 15 Jahre. Nur die wenigsten Häftlinge besaßen eine abgeschlossene Schulausbildung. Manche hatten gar noch nie ein Buch gelesen. Im Gefängnis kamen sie mit politischer Literatur in Kontakt. In Haft wurden, basierend auf den Schriften Paulo Freires, Schulungskurse von den Gefangenen selbst organisiert. Es wurden Leselisten angefertigt und die Gefangenen begannen zu schreiben. Einer der Ersten war Des O’Hagan, der 1972/73 aus Long Kesh/Maze eine Kolumne für die Tageszeitung Irish Times verfasste.
Die Brownie-Papers
In Gesellschaften, die von nationalen und kolonialen Konflikten geprägt sind, genießen politische Gefangene besondere Autorität. "In Nordirland, im Baskenland, Südafrika oder Kurdistan werden die Gefangenen als 'Helden der Gemeinschaft' gesehen", erläutert Reinisch: "Nelson Mandela, Abdullah Öcalan oder Arnaldo Otegi – sie alle waren oder sind langjährige Gefangene und zugleich wichtige Akteure der Friedensprozesse." Auch der spätere Präsident von Sinn Féin, Gerry Adams, schrieb ab Mitte der 1970er Jahre eine Artikelserie unter dem Pseudonym Brownie für die republikanischen Zeitung An Phoblacht. Darin skizzierte er bereits die spätere republikanische Strategie, die den Weg zum Friedensschluss von 1998 ebnen sollte.
Dieter Reinisch will nun genauer wissen, wie sich politische Gefangene in Haft bilden. Was lesen sie und wieso? Wie verändern sich politische Sichtweisen in Haft? Welchen Einfluss können politische Gefangene auf Gesellschaften in Kriegs- oder Bürgerkriegssituationen nehmen? Diese Fragen will der Nachwuchsforscher beantworten, um dadurch die Interaktion zwischen den Häftlingen und der politischen Bewegung außerhalb der Gefängnisse darzustellen.
Kürzlich veröffentlichte Dieter Reinisch eine Geschichte irisch-republikanischer Aktivistinnen im Dubliner Verlag Cló Saoirse "Cumann na mBan: 100 Years Defending the Republic" und gab den Sammelband "Der Urkommunismus. Auf den Spuren der egalitären Gesellschaft" heraus.
Demnächst erscheint seine Studie über irisch-republikanische Frauenaktivistinnen während des Nordirlandkonflikts im Kölner ISP-Verlag.
Interviews mit ehemaligen Gefangenen
Die große Herausforderung dabei: Aus den Hochsicherheitsgefängnissen gibt es kaum Aufzeichnungen. Dieter Reinisch versucht daher, die Forschungslücke mit Hilfe der Erinnerungen ehemaliger Gefangener zu schließen. Dazu interviewt er knapp 60 ehemalige Insassen. Bereits für seine Diplomarbeit hat Dieter Reinisch republikanische Aktivistinnen interviewt. Auf diese Kontakte kann er nun zurückgreifen.
Dabei interessiert sich der junge Forscher auch für die Lebenswege der Interviewpartner – sie sollen ihm dabei helfen, die Handlungsmotive der Gefangenen zu analysieren und gefängnisspezifische Prozesse zu erkennen. Langfristig will er mit seinen Forschungsergebnissen einen Beitrag zum besseren Verständnis nationaler Konflikte leisten.
Dieter Reinisch, geb. am 14. Februar 1986 in Hainburg an der Donau, studierte Geschichte und Keltologie in Wien und Belfast. Er ist derzeit Lehrbeauftragter am Institut für Sprachwissenschaft.
Sein Dissertationsprojekt am Institut für Geschichte lautet: Staidéar faoi ghlas – Polaitíocht taobh amuigh. How self-education in Long Kesh changed the course of the Northern Irish Troubles: An Oral History study on Irish republican ex-prisoners and the Maze Library. Es wird von Univ.-Doz. Dr. Finbarr McLoughlin MA, Universität Wien, und Prof. Robert W. White, Indiana University, IN, USA, betreut. Ab September arbeitet er an seinem Dissertationsprojekt am European University Institute in Florenz, Italien.
Literaturtipp zum Thema:
Feargal Mac Ionnrachtaigh: Language, Resistance and Revival. Republican Prisoners and the Irish Language in the North of Ireland. London 2013.
Laurence McKeown: Out of Time. Irish Republican Prisoners. Long Kesh 1972-2000. Belfast 2001.