"Meine Forschung": Unterwegs in Europa
| 23. Juni 2014Um sich in Österreich fremd zu fühlen, muss man nicht zwingend von weit her kommen: Auch ein Umzug innerhalb Europas bringt zahlreiche Herausforderungen mit sich. Die Sozialhistorikerin Martina Nothnagel untersucht derartige Erfahrungen von ZuwanderInnen aus Spanien, Deutschland und Skandinavien.
"Ich bin sozusagen eine Softi-Ausländerin", beschreibt eine junge Frau aus Norwegen die Art und Weise, wie sie sich in Wien als Migrantin wahrgenommen fühlt. "Mein Herz ist irgendwie geteilt. Bin ich in Spanien, vermisse ich Österreich – und umgekehrt" schildert eine Zuwanderin aus Spanien ihre Erfahrungen.
Gemeinhin werden mit "MigrantInnen" jene ZuwanderInnen assoziiert, deren Herkunftsland sich von Österreich grundlegend unterscheidet, denen Schwierigkeiten bei der Integration und mit dem Leben in Österreich unterstellt werden, und die häufig unfreiwillig (als Flüchtlinge oder AsylwerberInnen) hier sind. Martina Nothnagel beschäftigt sich in ihrer Dissertation am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien mit einer gänzlich anderen Gruppe von MigrantInnen: Am Beispiel von ZuwanderInnen aus Spanien, Deutschland und Skandinavien untersucht sie die Migrationserfahrungen von Menschen, deren Herkunftsländer Österreich in vielerlei Hinsicht ähnlich sind und deren Integration kaum als problematisch thematisiert wird.
Im uni:view-Dossier "Meine Forschung" stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.
Persönliche Migrationserfahrungen
Zunächst gilt das Forschungsinteresse der Nachwuchswissenschafterin der Frage, wie denn diese Menschen ihre Migration erleben, wie sie ihre Erfahrungen interpretieren und ihre Lebensweise gestalten. "Duzen und Siezen, anderer Humor, andere zwischenmenschliche Umfangsformen, positive und negative Stereotype: Mich interessiert, welchen – vielleicht unerwarteten – Schwierigkeiten und Herausforderungen sich diese MigrantInnen stellen müssen und welche individuellen Lösungsstrategien sie entwickeln", so Martina Nothnagel. Dabei will sie unter anderem herausarbeiten, wie wichtig es den ZuwanderInnen ist, im neuen Heimatland ihre Herkunftskultur zu erhalten, bzw. welche "Fremdheitserfahrungen" diese Menschen in Österreich machen.
Von den 1960ern bis heute
Konkret untersucht Martina Nothnagel Erzählungen von MigrantInnen, die während der letzten etwa 50 Jahre nach Wien gekommen sind. "Damit wird es möglich zu untersuchen, wie sich beispielsweise Veränderungen in Politik, Gesellschaft, Technologie und Kommunikationsmedien auf das transnationale bzw. transkulturelle Leben dieser MigrantInnen auswirken", sagt die Doktorandin.
Zu diesem Zweck führt sie thematisch fokussierte narrative Interviews durch und wertet diese in Anlehnung an die soziogenetische und dokumentarische Methode nach Karl Mannheim bzw. Ralf Bohnsack aus, wie sie erklärt. "Das heißt, es geht im Zuge dieser Interviews nicht allein darum, Fakten zu erheben. Vielmehr soll auch nicht explizit Gesagtes rekonstruiert werden", so die junge Forscherin, die für ihre Arbeit vor der herausfordernden Aufgabe steht, sich mit zum Teil heftig diskutieren und umstrittenen theoretischen Konzepten – wie etwa "Kultur", "kulturelle Identität", "Integration" oder "Inklusion/Exklusion" auseinanderzusetzen.
Alternative Fragestellungen, erweiterte Perspektiven
Ob aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen, dem Lifestyle oder der Karriere wegen: Österreich wird auch zukünftig Ziel einer Vielzahl unterschiedlicher ZuwandererInnen sein. "Mit meiner Arbeit möchte ich eine alternative Perspektive auf die Themen Migration, Integration und transnationale Mobilität eröffnen", beschreibt Martina Nothnagel ihr Forschungsziel.
Martina Nothnagel, geb. 1983 in Mödling, schreibt ihre Dissertation zum Thema "Unterwegs in Europa – MigrantInnen aus Spanien, Deutschland und Skandinavien in Wien" am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte unter Betreuung von a.o. Univ. Prof. Dr. Reinhard Sieder. Sie beschäftigte sich bereits im Zuge ihres Studiums der Ur- und Frühgeschichte mit Migration und "Kulturkontakten'"– damals durch eine Spezialisierung auf die Völkerwanderungszeit. Nach einem anschließenden Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte widmet sie sich diesem Thema nun aus einer neuen Perspektive.
Literaturtipps zum Thema:
Anthony Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert (Frankfurt a. M. 2001).
Heiner Keupp u.a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne (Hamburg 20084).