EU: Hat die Krise auch ihr Gutes?
| 13. Juni 2016Was ist nötig, damit es auf EU-Ebene zu grundlegenden Änderungen kommt? "Eine breite Krise", meint Gerda Falkner. Wie – und in welchen Bereichen – sich diese auswirken müsste, damit es zu Reformen kommt, hat die EU-Expertin in einem groß angelegten Forschungsprojekt untersucht.
Auf die Finanzkrise fand die EU eine gemeinsame Antwort in Form der sogenannten Bankenunion, die "Flüchtlingskrise" hingegen führt zu Blockaden auf EU-Ebene und nationalistischen Abschottungstendenzen einzelner Länder. Welche Auswirkungen haben Krisen dieser Größenordnung auf die EU-Politik, und warum führen sie einmal zu Durchbrüchen und ein anderes Mal eben nicht?
Diese Frage hat sich auch Gerda Falkner, Leiterin des Instituts für Europäische Integrationsforschung an der Universität Wien, gestellt: "Die Krise der EU ist ja ein Kernthema unserer Zeit." Daher hat sie gemeinsam mit ihrem Team am Institut sowie in Zusammenarbeit mit internationalen ExpertInnen alle wichtigen Politik-Felder der Europäischen Union – von der Energie- bis hin zur Verteidigungspolitik – analysiert und systematisch verglichen.
"In dieser Breite wurde das noch nicht gemacht und da wir als Institut nahezu alle Politikbereiche der EU abdecken, waren wir in der idealen Position, entsprechend zu handeln und diese Forschungslücke zu schließen", betont die Projektleiterin.
Podiumsdiskussion zur Semesterfrage am 20. Juni
EU-Expertin Gerda Falkner beteiligte sich am 20. Juni 2016 an einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?". Weiters dabei: Migrationsrechtsexpertin Christine Langenfeld (Universität Göttingen) – Impulsreferat zum Thema "Eine gute Migrationspolitik braucht mehr Europa!" –, Migrationsforscher und Vizerektor Heinz Faßmann, Osteuropa-Historiker Philipp Ther und Politikwissenschafterin Alev Cakir von der Universität Wien.
Krisen können zu Reformen führen
Das zentrale Ergebnis: Krisen können sehr wohl zu Weiterentwicklungen in der EU-Politik führen. "Doch dafür müssen drei Bedingungen erfüllt sein", erklärt die Forscherin. Erstens ist ein gravierendes Problem nötig, das zweitens viele oder alle Mitgliedstaaten betrifft und drittens eine kurzfristige Bedrohung darstellt, sprich es muss ein gewisser Problem- bzw. Zeitdruck vorhanden sein. "Ist diese Dreierkombination gegeben, kommt es zu weitgehenden Reformen", so Falkner und ergänzt: "Unsere Annahme, dass sich Krisen über den EU-Entscheidungsprozess und die involvierten Interessen auf die verschiedenen Politikbereiche auswirken, wurde damit bestätigt."
Beispiel Bankenkrise
Ein Beispiel dafür ist die Finanzmarktregulierung der EU: Die drohenden Bankenpleiten waren eine Gefahr für viele Länder und zwar in Verbindung mit einem kurzen Zeithorizont. "Der Schritt von nationaler zu supranationaler Verantwortlichkeit wurde gemacht und es kam zu Reformen", so die Expertin. Ein weiteres Beispiel ist die Fiskalpolitik: "Durch die Einführung neuer Verfahren haben die Nationalstaaten viele Kompetenzen abgegeben und die EU kann nun quasi in die nationalen Budgetpolitiken 'hineinregieren'."
Falkner sieht das Hauptproblem, dem die EU heute gegenübersteht, im Erstarken des Populismus: "Die EU wird auf nationalstaatlicher Ebene oft zum Sündenbock gemacht." Aber natürlich gäbe es auch auf Seiten der EU Verbesserungsbedarf: "Kein politisches System ist perfekt. Um etwas zu verändern, ist aber eine gemeinsame Anstrengung nötig."
Alle Staaten müssen betroffen sein
Auch in der Flüchtlingspolitik sind Problem- und Zeitdruck gravierend. Doch eine wichtige Bedingung wird nicht erfüllt: "Der Druck auf die Länder ist nicht annähernd gleich verteilt. Die Länder an der Peripherie – vor allem Italien und später Griechenland – wurden jahrelang mit dem Problem alleingelassen", so Falkner. Als die Verhältnisse dort so dramatisch geworden und die Flüchtlinge de facto weitergezogen waren, verteilte sich das Problem zwar auf weitere Länder, doch die weniger oder gar nicht betroffenen EU-Staaten blockieren nach wie vor.
"Hier hat nationaler Egoismus gegenüber anderen Erwägungen die Oberhand gewonnen", betont die Europaforscherin und meint: "Zwar werden langfristig alle Länder auf die eine oder andere Weise die Konsequenzen dieser Krise spüren – z.B. wenn Schengen zusammenbricht – doch vor allem populistisch orientierte PolitikerInnen agieren nur nach sehr kurzfristigen Interessen."
"Die Debatte rund um Großbritanniens möglichen EU-Austritt ist ein Beispiel dafür, welche Schäden populistische Politik anrichten kann", sagt Falkner. "Hier wird qualitativ eine sehr schlechte Diskussion geführt." Ein großes Problem ortet die Forscherin in der Medienkonzentration: "In den Händen weniger Privater sind sie über Finanzierungen meist eng mit der Politik verflochten. In einer Demokratie ist aber ein guter politischer Diskurs wichtig, dafür braucht es unabhängige Medien." (Foto: D Smith/Flickr)
Ungleichzeitige Europäisierung
Zwar gäbe es eine rechtsverbindliche Entscheidung, die Flüchtlinge aufzuteilen, doch ist diese realpolitisch nicht durchsetzbar. Die EU ist bei der Implementierung ihrer Politik – mit Ausnahme der Wettbewerbspolitik – immer noch auf die einzelnen Mitgliedstaaten angewiesen. Falkner erklärt: "Durch die ungleichzeitige Europäisierung wurden nicht alle Kompetenzen nach 'oben' abgegeben. Vor allem in Hinblick auf die Rechtsdurchsetzung hat die EU wenig Befugnisse."
Mittel- bzw. langfristig wird die EU nicht um eine Systemreform umhinkommen, damit sie – auf eine demokratische Art und Weise – handlungsfähiger wird und auf große Probleme entsprechend reagieren kann. "Aber auch PolitikerInnen in den Mitgliedstaaten könnten einiges in diese Richtung bewirken, wenn sie sich für ein konstruktives und gemeinsames Miteinander einsetzen", betont die Wissenschafterin.
Auf die Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa" antwortet Gerda Falkner mit zwei möglichen Szenarien: "Entweder 'Wir gegen die anderen', was weitere Ausländerhetze und Ängste zur Folge hat, oder wir sehen es als unsere moralische und menschenrechtliche Verpflichtung, diese Herausforderung anzugehen, auch wenn es anfangs etwas kostet. Und nicht zuletzt auch als Investition in die Zukunft. Welches Szenario eintrifft, hängt davon ab, wie wir politisch und sozial mit Migration umgehen." Zur Semesterfrage 2016
Drohender Zerfall als Chance?
Denn die Herausforderungen der heutigen Zeit können laut Gerda Falkner nur gemeinsam bewältigt werden. "Auch wenn uns einige nationalistische PolitikerInnen vom Gegenteil überzeugen wollen." Stellen wir weiterhin das "Eigene" vor das "Gemeinsame", so wird dieser nationale Egoismus die Krise der EU gravierend verschärfen und zu einer Abwärtsspirale führen, ist die Europa-Expertin überzeugt.
"Möglicherweise stellt aber der drohende Zerfall der Union ein so großes und unmittelbares Risiko für viele Mitgliedstaaten dar, dass die von uns im Rahmen des Projekts identifizierten Kriterien erfüllt werden und es schlussendlich doch noch zu einer grundlegenden – und rettenden – Reform der EU kommt", schließt Falkner. (ps)
Die Publikation "EU policies in times of crisis", herausgegeben von Gerda Falkner, erschien am 24. März 2014 als Sonderheft im "Journal of European Integration".
Das Projekt "EU policies in times of crisis: Mechanisms of change and varieties of outcomes" wird von der ÖAW finanziert und läuft von Herbst 2014 bis Sommer 2016 unter der Leitung von ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerda Falkner, Leiterin des Instituts für Europäische Integrationsforschung der Universität Wien. ProjektmitarbeiterInnen sind alle Postdoc-MitarbeiterInnen des EIF sowie Brigid Laffan (European University Institute EUI) und Jan Orbie (Universität Leuven) mit ihren Teams.