Eine logische Geschichte
| 09. Dezember 2015Es gab einen Autor, der im 9. Jahrhundert von Paris bis nach Bagdad Standardlektüre war: Aristoteles. Der antike Philosoph wurde aber nicht überall auf dieselbe Art gelesen. Was die Unterschiede und Parallelen waren, untersucht ERC-Preisträger Christophe Erismann an der Universität Wien.
"Klingt doch logisch" sagen wir, wenn uns etwas vernünftig erscheint. Verstehen wir etwas nicht, ist es "total unlogisch". Die Logik ist unser ständiger Begleiter – und zwar bereits seit über 2.000 Jahren. Und wer hat's erfunden? Natürlich die Griechen. Genauer gesagt: Aristoteles. Er hat mit der "denkenden Kunst", die sich auch als "Kunst der Schlussfolgerung" versteht, ein wichtiges Instrument wissenschaftlichen Denkens begründet.
"Die Logik steht im Dienste der Wahrheitsfindung. Erst über die logische Argumentation kommen wir zu einem Ergebnis", erklärt der Philosoph Christophe Erismann. Er befasst sich schon seit über zehn Jahren mit der Geschichte der aristotelischen Logik – bisher aber immer "nur" anhand einer Kultur. "So gibt es z.B. Forschungsarbeiten über die lateinische oder die griechische Tradition, aber die Sicht auf das große Ganze fehlt noch."
Die vier Sprachen der Logik
Im Rahmen eines ERC-Projekts untersuchen Christophe Erismann und sein interdisziplinäres Team zum Teil noch nicht edierte Kommentare und Randbemerkungen zu den Schriften Aristoteles' sowie alle Texte, die sich im weitesten Sinne – von der Medizin bis hin zum Recht – mit Logik beschäftigen und im 9. Jh. verfasst wurden. "Und zwar aus der byzantinischen, arabischen, syrischen und lateinischen Tradition", erklärt der Projektleiter.
Um diese Lücke zu schließen, stehen dem gebürtigen Schweizer zwei Millionen Euro zur Verfügung. Erismann hat für sein Projekt nämlich den hochdotierten ERC Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats eingeheimst. Die Idee zu diesem Projekt entwickelte er über viele Jahre hindurch. Gemeinsam mit Claudia Rapp beschloss er schließlich, das Projekt am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien anzusiedeln, wo er 2014 Gastforscher war. "An der Uni Wien finde ich die fachliche und sprachliche Expertise, die für die Umsetzung dieses engagierten Vorhabens nötig ist", unterstreicht der Philosoph.
Denn erstmals wird das Thema nicht chronologisch, sondern anhand eines zeitlich bestimmten Querschnitts (9. Jh.) durch vier (Sprach-)Traditionen beleuchtet: Der byzantinischen, lateinischen, syrischen und arabischen. "Denn Aristoteles wurde damals sowohl im Karolingischen Reich als auch am abbasidischen Hof in Bagdad studiert", erklärt der Forscher, den nun interessiert, wie unterschiedlich dieselben Texte in verschiedenen intellektuellen Kontexten gelesen wurden und was das gemeinsame Erbe Aristoteles' ist.
Nicht nur die verschiedenen Traditionen haben Einfluss auf die Lesart, sondern natürlich auch die Sprache. "Denn durch die Übersetzungsprozesse – und den damit einhergehenden Interpretationen – änderte sich auch die Auslegung", so Erismann. So gab es z.B. für das griechische Wort "Ousia" im Lateinischen zwei Übersetzungsmöglichkeiten: substantia oder essentia – also "Substanz" vs. "Wesenheit".
Welche Rolle spielte die Logik im 9. Jh.? Wie wurde Aristoteles rezipiert und welchen Platz nahm er z.B. im Unterricht und in der Ausbildung ein? Wie unterscheiden sich die byzantinischen, arabischen, syrischen und lateinischen Traditionen in dieser Hinsicht, bzw. was verbindet sie? Diese Fragen will Erismann im Projekt beantworten. (Foto: Gravur von Aristoteles, Enea Vico, 1523-1567)
Von direkten und indirekten Zugängen
Zudem gab es in der lateinischen Tradition – neben wörtlichen Übersetzungen von Aristoteles – auch vom Original teilweise weit entfernte Paraphrasen. So wurde im 9. Jh. z. B. nur die Augustinus zugeschriebene Paraphrase der aristotelischen Kategorien benützt, nicht aber die inhaltlich getreue Übersetzung des Boethius. "Als die lateinische Auslegung der Kategorien einsetzte, geschah das also auf Basis dieser Paraphrase", erklärt der Philosoph. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die byzantinische Tradition durch sprachliche Kontinuität aus: "Da die Byzantiner die Originaltexte von Aristoteles lasen, hatten sie einen viel direkteren Zugang zu seinem philosophischen Gedankengut."
Ein wenig komplexer entwickelte sich hingegen die syrisch-arabische Geschichte: Hier wurden die Texte zunächst ins Syrische und dann ins Arabische übersetzt oder direkt vom Griechischen ins Arabische. "Denn bei den Arabisch-Übersetzern handelte es sich meist um syrische Christen: Ihre Muttersprache war Syrisch, die Liturgiesprache Griechisch und die Umgangssprache Arabisch", fasst Erismann zusammen.
Wissen ist Macht
Warum schenkten die verschiedenen kulturellen Zentren gerade im 9. Jh. den Schriften Aristoteles' so viel Beachtung? "Es war das Zeitalter intellektuellen Aufbruchs, der sich quer durch alle vier Traditionen zog. Wobei eine gewisse Rivalität zwischen dem lateinischen, byzantinischen und arabischen Raum herrschte. Und mehr Wissen bedeutete mehr Macht", erklärt Erismann. (Foto: Reiterstatuette Karls des Großen aus dem 9. Jahrhundert/Marie-Lan Nguyen/Wikimedia Commons/CC-BY 2.5)
Im Karolingischen Reich setzte sich Karl der Große für das intellektuelle Leben ein. "Und auch in Byzanz ließ man die neuen Studien aufblühen, wodurch eine rege Kopiertätigkeit einsetzte", erzählt Erismann, warum gerade das 9. Jh. so spannend ist. Gleichzeitig begann im arabischen Raum, wo die Abbasiden im 8. und 9. Jh. ihre Macht ausbauten, eine regelrechte Übersetzungsbewegung. "Der Kalif und andere Würdenträger starteten ein riesiges kulturelles und wissenschaftliches Projekt – mit dem Ziel, das gesamte Wissen der Griechen zu übersetzen und zu verbreiten", so der Philosoph.
Religion und Logik
Aristoteles und seine logischen Schriften spielten v.a. in den inner- und interreligiösen Debatten eine wichtige Rolle. Seit dem 4. Jh. gab es sowohl Tendenzen, theologische Probleme logisch zu behandeln, als auch Bestrebungen, die Theologie von der Logik frei zu halten. So wurde z.B. im Konzil von Nicäa die Trinität als Substanz definiert. "Dadurch beschrieb man ein zentrales Anliegen des Christentums mit einem philosophischen Begriff, wodurch man die ganze philosophische Tradition in die Theologie mit hinein nahm", so Erismann.
Auch gab es den Versuch, das Christentum mittels logischer und philosophischer Konzepte gegenüber dem Islam zu verteidigen. Und die Muslime wiederum griffen auf Aristoteles zurück, um christliche Argumente "logisch" zu widerlegen. "Ob Religion rational verteidigt oder begründet werden kann, wird ja immer noch diskutiert", spannt der Wissenschafter den Bogen zu aktuellen philosophischen Problemen. "Und auch die Frage, welchen Platz Rationalität in der Theologie hat, beschäftigt uns bis heute."
Vielleicht liefern längst vergessene Texte die Antworten. "Immerhin werden wir Schriftstücke zusammentragen und studieren, die vor 1.000 Jahren entstanden sind und bis heute nicht an Bedeutung verloren haben", freut sich Erismann. Klingt doch logisch! (ps)
Dr. habil. Christophe Erismann, BA MA ist Philosoph und Experte für die (Philosophie-) Geschichte des Frühmittelalters. Er erhielt einen mit rund zwei Millionen Euro dotierten ERC Consolidator Grant für sein Forschungsprojekt "Reassessing Ninth Century Philosophy. A Synchronic Approach to the Logical Traditions". Am 30. Oktober 2015 war der offizielle Auftakt des Projekts, das er am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien und in Zusammenarbeit mit Byron MacDougall, Adam McCollum und Philippe Vallat durchführen wird.