Der "Sound" des Mittelalters
| 05. Dezember 2012Am 14. November erhielt Reinhard Strohm in Rom den renommierten Balzan-Preis: Seit einem Jahr erforscht er am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien – gemeinsam mit Fachkollegin Birgit Lodes und dem Musiker Marc Lewon – die musikalische Lebenswelt des Mittelalters.
Bei einem Spaziergang durch das heutige Wien finden sich nur mehr wenige mittelalterliche Spuren: die Neidhartfresken in den Tuchlauben, der Stephansdom und die Kirche Maria am Gestade zählen zu den wenigen Zeitzeugen. Wie das Mittelalter wohl geklungen hat, das interessiert die MusikwissenschafterInnen Birgit Lodes, Reinhard Strohm und Marc Lewon: "Wir versuchen die Klangaura des späten Mittelalters zu rekonstruieren: Was, wie und wo haben die Menschen gehört", so Reinhard Strohm, emeritierter Professor an der Universität Oxford.
VERANSTALTUNGSTIPP: Am Dienstag, 28. Mai 2013, hält Reinhard Strohm einen Vortrag zum Thema "Mitten in Europa. Musik des 15. Jahrhunderts in der Region Österreich". Die Veranstaltung findet im Rahmen des 12. Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultätsvortrags um 18 Uhr im Kleinen Festsaal der Universität Wien statt. Der Inhalt des Vortrags stützt sich auf das FWF-Forschungsprojekt "Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich". Programm und Anmeldung |
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Mehr als nur Noten
"Die Materialität des mittelalterlichen Musiklebens ist wenig erforscht", erklärt Birgit Lodes, Leiterin des FWF-Projekts "Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich". Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern begibt sie sich auf die Suche nach den einzelnen Puzzlestücken – wie Musikstücken, Bildern, Archivalien, literarischen Beschreibungen – und setzt diese in Verbindung zueinander: Eine Tuschezeichnung mit Neidhartfiguren aus der Universitätssammlung, die oben erwähnten Fresken und ein Liederbuch ergeben z.B. ein vielsagendes Bild vom bürgerlichen Musikleben der Stadt.
Die Anbindung an die allgemeine Kulturgeschichte ist den MusikwissenschafterInnen dabei besonders wichtig. 30 internationale BeraterInnen und vier institutionelle Partner helfen dem Projektteam bei der Suche und Interpretation der mittelalterlichen Spuren.
Das Lied "Do man den gumpel gampel sank" des lyrischen Dichters Neidhart aus der Eghenvelder Liedersammlung (Bild: ÖNB, Wien, Cod. s.n. 3344, fol. 7v). Hörbeispiel: Neidhart, "Do man den gumpel gampel sank" (mp3; Gesang und Laute: Marc Lewon; Live-Mitschnitt) |
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Um den klingenden Aspekt, sprich die musikalische Praxis, der mittelalterlichen Liedkunst in das Projekt miteinzubeziehen, haben sich Strohm und Lodes den aufführenden Musiker Marc Lewon ins Boot geholt – der Lautenist und Sänger schreibt seine Doktorarbeit bei Reinhard Strohm an der Universität Oxford. Gemeinsam mit fünf Ensembles spielt er 60 mittelalterliche Musikstücke ein und stellt diese als Hörbeispiele auf der Website zur Verfügung.
"Die Website wird das Endprodukt des Projekts sein: Bei deren Gestaltung gehen wir von einzelnen Beispielen, bzw. Bildern oder Dokumenten aus – zehn Leitthemen bilden dabei die Schneisen durch das Dickicht der Überlieferung. Unser Anspruch ist es, den Inhalt für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich zu machen – das wird gleichzeitig die größte Herausforderung", so Lewon.
Bläser mit internationalem Renommee
Die WissenschafterInnen untersuchen die Zeit von 1340 bis 1520: von Rudolf dem Stifter bis zu Maximilian I – auch als der "letzte Ritter" bekannt. "Nie wurde vorher in Europa so viel Musik niedergeschrieben wie in dieser Zeit – und: Die meisten erhaltenen Musikquellen kommen aus dem Dreieck Basel-Wien-Bologna – also im Wesentlichen aus unserer Untersuchungsregion", erzählt der Balzan-Preisträger Strohm.
Obwohl es die Weltmacht Habsburg noch nicht gab, hatte die "österreichische" Musikkultur eine überregionale Bedeutung. "Zwar wurde viel Musik aus Italien und Frankreich importiert und teilweise mit deutschen Texten unterlegt, aber im Bereich der Instrumentalmusik gehörten die deutschsprachigen Musiker – v.a. Lautenspieler und Bläser – zu den besten und wurden vielfach 'exportiert'", betont Lodes, die vor allem die internationalen Verflechtungen aufzeigen will. Deren gibt es viele, denn die Musikstücke des Mittelalters waren ständig im Fluss und variierten je nach lokaler musikalischer Praxis.
Über ihren Wissenschafts-Blog "Musikleben – Supplement" halten die MusikwissenschafterInnen Birgit Lodes, Reinhard Strohm und Marc Lewon KollegInnen und Interessierte über ihre Ergebnisse auf dem Laufenden. |
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Zurück zur "alten" Musik
Vieles, was wir heute mit westlicher Musik verbinden, hat sich im späten Mittelalter herausgebildet: Die Notenschrift, die Benennung der Noten – und es wurde erstmals mehrstimmig gesungen. "Das allgemeine Bewusstsein für die große musikalische Tradition unseres Landes setzt jedoch erst mit Mozart ein", bedauert Lodes. Sie findet es schade, dass die mittelalterliche Musik in Österreich kaum wahrgenommen wird und verweist auf die Städte Basel und Regensburg, die sich durch eine lebendige "Alte Musikszene" auszeichnen. "Die reiche österreichische Musiktradition der späteren Jahrhunderte beherrscht das allgemeine Bewusstsein so sehr, dass alles, was vorher war, in den Hintergrund gedrängt wird", vermutet die Professorin für Historische Musikwissenschaft. Mit dem aktuellen Projekt will sie dieses "Wissensdefizit" ausgleichen.
Oswald von Wolkenstein (geb. 1377/78 und gest. 1445 in Südtirol) war Sänger, Dichter, Komponist und Politiker. "Auf seinen unzähligen Reisen hat er sich ein großes Repertoire angeeignet: Seine mehrstimmigen Stücke hat er oft nicht selbst komponiert, sondern französische oder italienische Stücke mit seinen eigenen Texten unterlegt", erzählt Reinhard Strohm. (Bild: Porträt aus der Innsbrucker Liederhandschrift von 1432). Hörbeispiel: Oswald von Wolkenstein, Kanon "Nu rue mit sorgen" (mp3; Ensemble Leones; Live-Mitschnitt) |
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Die Komponisten mittelalterlicher Musik waren meist unbekannt. Oswald von Wolkenstein ist einer der wenigen Namen, die mit Musik aus dieser Zeit in Verbindung gebracht werden "Aber hier stehen mehr seine Texte und weniger seine Musik im Vordergrund", so Lodes. Die große Wirkung des Sängers auf seine ZeitgenossInnen führt die Musikwissenschafterin auf seine künstlerische Freiheit zurück, die er sich im Gegensatz zu anderen Musikern seiner Zeit erlaubte.
Tanzende Frauen und spielende Männer
Im Mittelalter war streng geregelt, wer wo musizieren durfte. So war es bürgerlichen Frauen zu jener Zeit nicht gestattet, in der Öffentlichkeit aufzutreten – Frauen von Spielleuten hingegen schon, da diese ohnehin im sozialen Abseits standen. Tanzende Frauen waren geduldet – musizierende nicht: "Im privaten Rahmen allerdings durften die gutbürgerlichen Damen beim Tanz sogar mitsingen", so Strohm, der für einen Sammelband über Frauen in der Musikgeschichte das 15. Jahrhundert untersucht hat.
Höfische Tanzszene, Fresko, um 1380, Schloss Runkelstein, Bozen, Südtirol (Foto: D. Krieger, Wikipedia); Hörbeispiele höfischer Tanzmusik: Giovanni Ambrosio, "Amoroso/Ballo Franzese" (.wav)* Guillaume Dufay, Chanson "Se la face ay pale" (.wav)** |
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Die geteilte Gesellschaft und die ungleichen Ausgangsbedingungen sind ein großes Thema dieser Zeit, über das sich auch der Bogen zu heute spannen lässt. "Damals bestimmten Stand und Ausbildungsmöglichkeiten das weitere Leben – teilweise ist das leider heute noch so", schließt Strohm. (ps)
Das FWF-Projekt "Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich" läuft von 1. Oktober 2011 bis 31. Mai 2014 unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Birgit Lodes vom Institut für Musikwissenschaft. Projektmitarbeiter sind Prof. em. Dr. Reinhard Strohm, Universität Oxford, Mag. Marc Lewon, Universität Oxford und Mag. Dr. Robert Klugseder von der ÖAW Wien, der für Programmierung der Website verantwortlich ist. Es sind außerdem 30 internationale BeraterInnen, vier institutionelle Partner (darunter die Institute für Musikforschung und für Realienkunde des Mittelalters (imareal) der ÖAW), fünf Musikensembles (Ensemble Leones, Stimmwerck, Les haulz et les bas, Salzburger Virgilschola, Orgelfachleute Prof. Walterskirchen und Prof. Dr. Aringer) und etliche Studierende des Instituts für Musikwissenschaft am Projekt beteiligt.
Dieser Artikel erschien im aktuellen Forschungsnewsletter. Lesen Sie auch: > Verzerrte Gerechtigkeit – das Rechtsdenken im Nationalsozialismus > Neue Professuren im Dezember > Drittmittelerfolge für die Universität Wien > Erfolgreiche NachwuchswissenschafterInnen |
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Weitere Informationen zu den Hörbeispielen:
* CD "alta danza. Dance Music from 15th-century Italy", Christophorus 1998); Ensemble Les haulz et les bas & Véronique Daniels
** CD "ad modum tubae", Talanton 2011); Ensemble Les haulz et les bas