Das Chaos visualisieren

Lauscht man dem Röhren eines Hirsches, kann man buchstäblich dabei zuhören, wie ein System von der Ordnung in chaotische und chaos-nahe Zustände kippt. Eine an der Universität Wien entwickelte Visualisierungstechnik macht solche Phänomene sichtbar.

Exakt 50 Jahre nach der Entdeckung der Chaostheorie durch den US-amerikanischen Mathematiker und Meteorologen Edward Lorenz (man denke z.B. an den Butterfly-Effekt) übt das Thema noch immer eine ungebrochene Faszination aus. Eine neue, an der Universität Wien entwickelte Visualisierungstechnik macht Chaos für das menschliche Auge besser erkennbar.

"Phasegram" macht es möglich

Die Schwingungszustände eines dynamischen (chaotischen) Systems konnten bislang nur durch Verfahren dargestellt werden, welche von Nicht-MathematikerInnen schwer zu interpretieren sind bzw. mehrere Abbildungen benötigen. Eine Arbeitsgruppe um Biophysiker Christian Herbst vom Department für Kognitionsbiologie der Universität Wien hat nun in Zusammenarbeit mit dem Chaos-Experten Hanspeter Herzel von der Charité in Berlin ein neuartiges Visualisierungsverfahren für derartige Phänomene entwickelt und in der Fachzeitschrift "Royal Society Interface" publiziert: das sogenannte "Phasegram". Dieses Verfahren erlaubt es, die Symptome von Systemen "auf dem Weg zum Chaos" intuitiv in einer einzigen Abbildung sichtbar zu machen.


"Die Stimme von Mensch und Tier ist ein eindrucksvolles und sehr lebensnahes Beispiel eines einfachen dynamischen Systems, welches imstande ist, Chaos zu erzeugen", so Biophysiker Christian Herbst.

Beispiel eines im Labor zur Tonproduktion angeregten Hirsch-Kehlkopfs.



Was ist "Chaos"?


Chaos ist nicht purer Zufall, sondern kommt durch die Fähigkeit eines simplen Systems, unter bestimmten Rahmenbedingungen komplexes unregelmäßiges Verhalten zu erzeugen, zustande. "Dies trifft auf viele in der Natur vorkommende Phänomene zu: Wetter, Herzrhythmus, Modelle für Bevölkerungswachstum, Wirtschaftsdaten, bestimmte chemische Reaktionen oder die Stimme von Mensch und Tier", erklärt Christian Herbst.

Ein periodisch schwingendes System kann unter bestimmten Umständen durch die minimalste Änderung eines einzigen Einflussfaktors abrupt in chaotisches Verhalten umspringen. Es kann aber auch verschiedene Symptome "auf dem Weg zum Chaos" zeigen: so genannte Periodenverdopplungen bzw. subharmonische Schwingungen sowie abrupte Sprünge zwischen verschiedenen periodischen Schwingungsarten. Das Schreien von Babys oder das "Kicksen" von Knaben im Stimmbruch sind aus dem Leben gegriffene Beispiele hierfür.

Zeitsignal beim Hirsch-Kehlkopf

Die Wissenschafter regten im Labor einen Hirsch-Kehlkopf mittels Luftdruck zum Schwingen an. Durch die Luft, die an den Stimmbändern vorbeizieht, entsteht zuerst ganz kurz ein Ton. Im Diagramm werden zwei Linien sichtbar. Steigt der Luftdruck an fällt das System in ein irreguläres, chaosartiges Verhalten und auch die Darstellung im "Phasegramm" wird zerfahren.

Wird der Druck weiter erhöht, kommt es zu sogenannten Periodenverdopplungen und subharmonischen Schwingungen - Zwischenstufen zwischen Ordnung und Chaos. An diesem Punkt ergeben sich im Diagramm vier Linien, die sich in der dann folgenden Phase der Ordnung wieder zu zwei parallelen, geordneten Linien verjüngen. In diesem Zeitraum ist ein periodischer Ton hörbar. Bei abfallendem Luftdruck werden wieder die gleichen Zustände in umgekehrter Reihenfolge durchlaufen.

Die neue Methode zeige damit sehr anschaulich, dass sich die gefundenen Schwingungsformen abrupt verändern, obwohl lediglich der Luftdruck stetig an- und abschwillt.

Methode im Detail erklärt

Ausgangspunkt ist ein Zeitsignal, das ist eine in regelmäßigen Abständen von ca. 0,02 ms aufgenommene Reihe von Messdaten, welche die Schwingung der Stimmlippen repräsentiert (Bild 1). Es folgen zwei Verarbeitungsschritte: ein mathematisch relativ komplexer (Bild 2) und einer, in welchem das Verhalten des Systems auf einen extrem einfachen Nenner gebracht wird (Bild 3).


Bild 1: Ausschnitt (160 ms) des Zeitsignals, welches die Schwingung der Stimmlippen im untersuchten Hirschkehlkopf repräsentiert. Die in der Abbildung dargestellte Wellenform ist irregulär, d.h. nicht periodisch.



In regelmäßigen Abständen werden Ausschnitte des oben beschriebenen Zeitsignals in einen so genannten zweidimensionalen Phasenraum eingebettet, und zwar mittels eines vor ca. 30 Jahren beschriebenen mathematischen Verfahrens.

Es entsteht eine geometrische Figur, welche je nach Systemverhalten eine distinkte Charakteristik aufweist. Ein Schnitt durch den Phasenraum, erkennbar als orangefarbene Diagonale, ergibt die rot gekennzeichneten Schnittpunkte.


Bild 2: Zwischenergebnis des Phasegram-Verarbeitungsalgorithmus: Einbettung des untersuchten Zeitsignals (blau) in einem so genannten zweidimensionalen Phasenraum. Die Schnittpunkte (rot) entlang der orangen Diagonalen werden weiter verarbeitet.



Die Schnittpunkte im Phasenraum werden in regelmäßigen Abständen entlang einer Zeitachse aufgetragen.

Das resultierende Phasegram ist sehr leicht zu lesen: Zeit verläuft entlang der (horizontalen) x-Achse. Die Anzahl der Linien entlang der (vertikalen) y-Achse lässt auf das Systemverhalten zum jeweiligen Zeitpunkt schließen:

  • eine Linie: keine Oszillation/Schwingung (Stillstand des Systems)
  • zwei Linien: periodische Schwingung
  • vier, sechs, acht etc. Linien: Periodenverdopplung, subharmonische Schwingungen
  • keine durchgängigen Linien: Irreguläres Systemverhalten, Indikator für Chaos



Bild 3: Phasegram einer im Labor erzeugten Tonproduktion eines Hirschkehlkopfes. Zeit ist entlang der (horizontalen) x-Achse, und die im Phasenraum gefundenen Schnittpunkte sind entlang der (vertikalen) y-Achse aufgetragen. (Bild: Christian Herbst)



Das Foto zeigt das Phasegram des im Labor künstlich zur Tonproduktion angeregten Hirschkehlkopfes. Der zum Antrieb der Stimmlippen des Hirsches maßgebliche Luftdruck wurde im Versuchsaufbau als einzige Größe graduell verändert: Während der ersten Hälfte des Versuches (0 bis 9 Sekunden) steigt der Luftdruck graduell an, danach sinkt er mit gleichbleibender Rate.

Chaos kann erzeugt werden

Der Versuch zeigt auf eindrucksvolle Weise die Fähigkeit eines einfachen Systems, Chaos bzw. Vorstufen dazu zu erzeugen: Trotz der stetigen Veränderung des Luftdrucks ändern sich die gefundenen Schwingungsformen abrupt, die Reihenfolge der durchlaufenen Modi (Stillstand, periodisch, irregulär, Periodenverdopplung, periodisch) ist symmetrisch für zunehmenden bzw. abnehmenden Luftdruck. Das Auftreten der einzelnen Schwingungsformen abhängig vom verwendeten Luftdruck ist im Versuchsaufbau bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen verlässlich reproduzierbar. (vs/APA)

Die Publikation "Visualization of system dynamics using phasegrams" (AutorInnen: Herbst CT, Herzel H, Svec JG, Wyman MT, Fitch WT) erschien im Journal of the Royal Society Interface.