"Bist du deppert!" – Vom Schimpfen, Drohen und Fluchen

Verbale Aggression ist ein Problem, das uns alle betrifft. Doch was bringt uns dazu, jemanden als "Trottel" oder "Depperter" zu beleidigen, und welche Rolle spielen Alter, Geschlecht oder sozialer Status dabei? Genau das will die Germanistin Oksana Havryliv herausfinden: mit Fokus auf Wien.

"Das Thema verbale Gewalt liegt am Schnittpunkt zwischen Linguistik, Soziologie und Psychologie und ist deshalb besonders spannend", erklärt Oksana Havryliv vom Institut für Germanistik der Universität Wien die Faszination fürs das interdisziplinäre Forschungsthema. Sie beschäftigt sich bereits seit über 19 Jahren mit Schimpfwörtern: "Seit Anfang der 1940er Jahre findet sich eine Reihe wissenschaftlicher Publikationen zum Thema Aggression. Darunter sind aber kaum Arbeiten über den Aspekt der verbalen Aggression. Und das, obwohl Schimpfen und Co. bei Menschen eine viel größere Rolle spielt als körperliche Gewalt: 90 Prozent unseres aggressiven Verhaltens ist verbaler Natur", so die Elise-Richter-Stipendiatin.


Auf die Idee, verbale Aggression zu erforschen, kam Oksana Havryliv 1994 in Wien: "Ich war damals gerade mit dem Studium fertig und bin anschließend mit einem zweimonatigen ÖAD-Kurzstipendium nach Österreich, um das Wienerische zu erforschen." Ihre Dissertation ist neben der ukrainischen Urfassung 2003 in erweiterter Form unter dem Titel "Pejorative Lexik" auf Deutsch erschienen.



Ziele und erste Ergebnisse

Nach mehreren publizierten Studien zählt Oksana Havryliv heute zu den führenden ExpertInnen, wenn es um die sogenannte "pejorative Lexik" – die wissenschaftliche Bezeichnung für Schimpfwörter – geht. Ihr aktuelles Forschungsvorhaben greift Materialien eines Vorgängerprojekts auf: Zwischen 2006 und 2008 hat die Germanistin im Rahmen des Lise-Meitner-Programms des FWF insgesamt 350 schriftliche und mündliche Umfragen in Wien durchgeführt und ausgewertet. Ziel war es, verbale Aggression im alltäglichen Leben unterschiedlicher sozialer Gruppen aus semantischer sowie pragma- und soziolinguistischer Sicht zu erforschen.


Dieser Artikel erschien im Forschungsnewsletter Juli/August 2013.
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Status wiegt mehr als Geschlecht

"Im aktuellen FWF-Projekt gehe ich nun einen Schritt weiter und untersuche, wie sich das Zusammenspiel der Variablen Geschlecht, Alter und sozialer Status auf die verbale Aggression auswirken", erläutert die Forscherin und nennt spannende erste Analyseergebnisse: "Es gibt zum Beispiel die These, dass Frauen eher zur verdeckten Aggression – in Gedanken bzw. hinter dem Rücken – neigen, während Männer schneller direkt verbal aggressiv werden. Meine Untersuchungen bestätigen dies auch gruppenübergreifend, wenn auch der Unterschied nicht stark ist."

Auch relativiert sich der Geschlechterunterschied beim "Schimpfen" in Korrelation mit dem Bildungsgrad: "Geschlechtertypische Unterschiede sind nur auf dem Niveau der Gruppe eins – Personen ohne Matura – sichtbar. Es ist also anzunehmen, dass verbale Aggression stärker vom sozialen Status als vom Geschlecht abhängt", so Havryliv.


Besondere Aufmerksamkeit wird im Projekt der Wahrnehmung verbaler Aggression sowie den Reaktionen auf diese gewidmet. Anhand der empirischen Grundlage gilt es, die in der Geschlechterlinguistik üblichen Hypothesen zu überprüfen, wie zum Beispiel: Werden Männer öfter verbal aggressiv als Frauen? Stimmt es, dass bei Frauen eher die verdeckte verbale Aggression und Selbstaggression vorherrscht? Neigen Frauen tatsächlich eher zu Euphemismen als Männer? etc. (Foto: Hang in there/Flickr)



Von A wie "Aas" bis Z wie "Zupf dich"


Wie umfangreich das Repertoire an Schimpfwörtern in unserer modernen Gesellschaft tatsächlich ist, hat die Germanistin in der oben erwähnten Vorgängerstudie, die 2009 in Buchform erschienen ist, eindrucksvoll aufgezeigt. Darin findet sich ein umfangreiches Verzeichnis gebräuchlicher aggressiver Sprechakte, unterteilt in die Kategorien "Beschimpfung", "Fluch", "Drohung", "Verwünschung" und "aggressive Aufforderung".

"Im deutschsprachigen Raum existieren mehr als 150 ein- und mehrsprachige Schimpfwörterbücher, die sich allerdings vorwiegend auf den Sprechakt 'Beschimpfung' beschränken – andere Ausprägungsformen verbaler Gewalt wurden bislang lexikographisch nicht systematisch erforscht", so die Elise-Richter-Stipendiatin. In ihrem Buch ist hingegen so gut wie alles vertreten, was man seinem Gesprächspartner bzw. seiner Gesprächspartnerin an den Kopf werfen kann: von A wie "Aas" bis zu Z wie "Zupf dich".


Die Studie "Verbale Aggression – Formen und Funktionen am Beispiel des Wienerischen" ist 2009 im Peter Lang Verlag in Buchform erschienen. Darin findet sich unter anderem eine umfassende, systematische Auflistung aktuell gebräuchlicher Schimpfwörter der WienerInnen



Schimpfen im Dialekt ist beleidigender

Im Buch der Germanistin finden sich neben zahlreichen bekannten hochdeutschen auch viele negativ behaftete Äußerungen aus dem Wienerischen wie "Wappla" oder "Koffer". "Dialekte interessieren mich als Sprachwissenschafterin ohnehin besonders. Bei der pejorativen Lexik beobachten wir folgende Gesetzmäßigkeit: Die Dialektwörterbücher bieten ein reiches Material für SchimpfwortforscherInnen und umgekehrt – Schimpfwörterbücher beruhen oft auf einzelnen Dialekten. Insofern verwundert es nicht, wenn in Wien vorwiegend im Dialekt geschimpft wird", erklärt Oksana Havryliv. Sprache spiegle eben generell die Beziehungen, Werte und Probleme einer Gesellschaft wider. "Anhand des Schimpfvokabulars können wir über die Tabus, Probleme und Stereotype in der jeweiligen Gesellschaft schlussfolgern, denn die Schimpfwörter verstoßen gegen die üblichen Tabus und richten sich auf das, was von der Norm abweicht."

Besonders spannend: Von insgesamt 36 Personen, mit denen die Forscherin mündliche Intensiv-Interviews durchgeführt hat, gaben 22 an, Dialekt-Schimpfwörter als beleidigender zu empfinden als "hochdeutsche". Schimpfen "auf österreichisch" wird als "emotioneller", "authentischer" und "unmittelbarer" wahrgenommen. (ms)

Das FWF-Projekt "Verbale Aggression und soziale Variablen" unter der Leitung von Dr. Oksana Havryliv vom Institut für Germanistik der Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät wird im Rahmen des Elise-Richter-Programms gefördert und läuft von 1. Juli 2012 bis 30. Juni 2016.


WIE KANN ICH AN DER STUDIE TEILNEHMEN?
Sie wollen Ihre Meinung einbringen bzw. die Forschung von Oksana Havryliv gerne unterstützen? Bei Interesse, an der schriftlichen oder mündlichen Umfrage teilzunehmen, melden Sie sich bitte per E-Mail bei der Forscherin: oksana.havryliv(at)univie.ac.at