Wiener Pharmakologen und neuseeländische Genetikerin entschlüsseln Ursachen für vererbbare Augenkrankheit

Wie die renommierte Fachzeitschrift PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences) in ihrer Ausgabe vom 15. Mai 2005 berichtet, ist es Wiener Pharmakologen gemeinsam mit einer ForscherInnengruppe aus Neuseeland gelungen, die Ursache einer vererbbaren Augenerkrankung aufzuklären. Die Wiener Pharmakologengruppe leitete Univ.-Prof. Dr. Steffen Hering, Leiter des Departments für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Wien. Die Genetikerin Univ.-Prof. Dr. Marion Maw von der Universität Otago stand den WissenschaftlerInnen in Neuseeland vor.

Die Mutation ist auf dem X-Chromosom lokalisiert. Von der Mutation ist eine große Maorifamilie in Neuseeland betroffen. Das Auftreten der Erbkrankheit wurde über sieben Generationen verfolgt. Die Mutation verursacht Sehstörungen bei Männern und Frauen, Männern sind jedoch in stärkerem Maße betroffen. Die Mutation verändert ein Eiweiß, welches in den Photorezeptoren der Netzhaut (Retina) vorkommt und für den Einstrom von Kalziumionen verantwortlich ist. Dieses Eiweiß in den lichtempfindlichen Retinazellen wird deshalb als Kalziumkanal bezeichnet. Ein geregelter Einstrom von Kalzium ist die Voraussetzung für die Weiterleitung der erfassten Lichtsignale in unser Gehirn

Die Wiener Pharmakologen um Steffen Hering untersuchten die veränderten Funktionen der mutierten Kalziumkanäle. „Der Austausch von nur einer von etwa 2000 Aminosäuren führt dazu, dass sich die Kalziumkanäle viel leichter öffnen lassen als bei Gesunden. Es ist nicht verwunderlich, dass die betroffenen Familienmitglieder unter Sehstörungen leiden. Die „gesunden Kalziumkanäle“ öffnen bei Dunkelheit und werden bei Licht abgeschaltet – eine wichtige Voraussetzung für Sehen in der Dämmerung und in der Nacht. Die mutierten „kranken Kalziumkanäle“ bleiben bei Licht und bei Dunkelheit offen. Durch diese hyperaktiven Kanäle werden die Rezeptoren der Netzhaut regelrecht von Kalzium überlaufen und der Sehvorgang empfindlich gestört“, erläutert Hering. Die betroffenen Männer leiden an Weitsichtigkeit, gestörtem Farbsehen, Autismus und sind in schweren Fällen in ihrer geistigen Entwicklung eingeschränkt. Die betroffenen Frauen leiden an verminderter Sehschärfe und sind häufig stark kurzsichtig.

Ahnenforschung in einer Maorifamilie

„Wahakapapa (= die Kenntnis der Familiengeschichte, seiner Herkunft) spielt in der Maorikultur eine wichtige Rolle. Wahakapapa schließt nicht nur enge Verwandte (ersten Grades) sondern auch fernere Verwandte ein“, berichtet Frau Dr. Maw. „Dieser Umstand war besonders wichtig für die genetische Analyse. Wir benötigten eine große Familie, je größer, desto genauer konnten wir das Gen lokalisieren. Da die Maorivorfahren nur eine mündliche Kultur hatten, existieren eigentlich kaum schriftliche Quellen. Als sehr hilfreich für die genetischen Untersuchungen erwiesen sich die Aufzeichnungen der Nachkommen eines Spaniers, der 1830 von seinem Wahlfangboot desertierte. Manuel Jose lebte mit einem Maoristamm an der Ostküste von Neuseeland. Seine whanau (Familie) war sehr umfangreich und so gut dokumentiert, dass wir das erstmalige Auftreten der Mutation mit ziemlicher Sicherheit lokalisieren konnten. Insgesamt wurden 36 Mitglieder der betroffenen Familie untersucht und die Stammbäume über sieben Generationen zurückverfolgt. Der Stammbaum von Manuel Jose ist ausführlich auf http://www.manueljose.org.nz/whaka_main1.html abgebildet.

„Manuel Jose und seine dritte Frau Maraea (1.Generation) hatten eine Tochter namens Miriama (2.Generation). Miriama und deren dritter Ehemann Mr.Walker hatten wieder eine Tochter, die nach ihrer Großmutter Maraea benannt wurde (3.Generation). Diese Enkelin (3.Generation) ist die erste Person, von der wir mit Sicherheit wissen, dass sie das geschädigte Gen besaß. Es ist leider nicht mehr feststellbar, ob einer der beiden Elternteile (2.Generation) davon auch schon betroffen war. Ich nehme an, dass die Mutation („der genetische Unfall“) in der Spermazelle von Mr. Walker oder von Manuel Jose stattgefunden hat. Diese hat sich dann mit Mirama’s Eizelle vereinigt und Enkelin Maraea ist daraus entstanden. Das legt nahe, dass das ursprüngliche Gen von einem europäischen Vorfahren stammt. Da diese Männer nicht blind waren, liegt die Vermutung nahe, dass sie eine gesunde Variante des Gens besaßen und sich der „Unfall“ (die Schädigung) in weiterer Folge in einer Spermazelle ereignet hat. Ich nehme das deswegen an, weil die „intron21 Variante“, die im CACNA1F-Gen dieser Familie vorhanden ist, sich auch in einigen europäischen Kontrollgruppen befindet, jedoch in keiner der polynesischen Kontrollen (Maori und verwandte pazifische Bevölkerungsgruppen) zu finden war.“ führt Dr. Maw aus.

Ein Mitglied der Maorifamilie ist Co-Autorin der Publikation

Eine wichtige Schnittstelle zwischen den Maorifamilien und dem Forschungsteam war die Co-Autorin Patricia Lundon-Treweek, ein Mitglied der neuseeländischen Maori. Sie selbst und zwei ihrer drei Kinder sind von der Krankheit betroffen.

Hinweise auf Ursachen von Autismus?

Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass diese Mutation auf einem Kalziumkanal bei Männern im Zusammenhang mit Autismus stehen könnte. Auch bei einer anderen Mutation in einem Kalziumkanal, die das so genannte Timothy Syndrom auslöst, wurde Autismus festgestellt. Es müssen jedoch weitere Untersuchungen durchgeführt werden, um den Zusammenhang zwischen der Störung im Kalziumstoffwechsel im zentralen Nervensystem und Autismus aufzuklären.

Hering: “Von seltenen Krankheiten wie der vorliegenden Ionenkanalerkrankung können wir viel über die Rolle von Kalziumkanälen in unserem Körper lernen. Mutationen in Kalziumkanälen verursachen nicht nur Nachtblindheit sonder auch vererbbare Formen von Migräne. Manche Phänomene, wie z.B. das Auftreten von Nachtblindheit, lassen sich heute bereits gut erklären. Die Beziehung der Kanäle zu anderen Krankheiten wie Autismus oder Kurzsichtigkeit sind noch unklar. Wir befinden uns nicht am Ende sondern am Beginn eines interessanten Forschungsprojektes. Wir hoffen auf neue Erkenntnisse über die Ursachen von Autismus und das Entstehen von Kurzsichtigkeit. Ob eine Therapie möglich ist, wird die Zukunft zeigen.“

Rückfragehinweis:

Mag. Veronika Schallhart

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