Acht ERC Consolidator Grants für Wissenschafter*innen der Universität Wien

Breites Themenspektrum aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Insgesamt acht Wissenschafter*innen der Universität Wien erhalten aktuell einen ERC Consolidator Grant, dotiert mit je rund zwei Millionen Euro. Das Themenspektrum der geförderten Projekte reicht von Digital Humanities, Literaturwissenschaft und Ostasienwissenschaft bis hin zur Mathematik, Chromosomenbiologie und Chemie.

Die Universität Wien freut sich über die bisher erfolgreichste ERC-Woche: Tara Andrews, Jia Min Chin, Julia Lajta-Novak, Joao Matos, Anton Mellit, Tetyana Milojevic, H. Christoph Steinhardt und Eva Beaujouan erhalten ERC Consolidator Grants, die je mit rund zwei Millionen Euro dotiert sind. "ERC-Grants sind sehr kompetitiv und ermöglichen Pionierforschung in unterschiedlichsten Disziplinen. Sie sind ein wichtiger Indikator für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Universität Wien. Es ist äußerst erfreulich, dass gleich acht unserer Wissenschafter*innen erfolgreich waren", sagt Rektor Heinz W. Engl.

Digitale Rekonstruktion des verbundenen Christentums des elften Jahrhunderts
In ihrem ERC-Projekt RELEVEN erforscht Tara Andrews, wie digitale Methoden und Datensets jene Mehrdeutigkeit, Interpretationsvielfalt und Ergebnisoffenheit reflektieren können, die gerade die Eigenheit historischer Quellen ausmachen. Dieser Zugang eröffnet Einsichten in unterschiedliche Erzählungen davon, was "wirklich" in den Jahrzehnten vor dem Ersten Kreuzzug geschah. Das Projektteam wird an digitalen Modellen arbeiten, mit denen historische Evidenz ausgedrückt werden kann – und zwar nicht nur im Hinblick auf die verschiedenen vorhandenen Evidenzarten – textlich, materiell, auch logisch oder deduktiv – sondern auch hinsichtlich der unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die Wissenschafter*innen daraus gezogen haben. Zweck ist die Anwendung dieser Modelle mit dem Ziel, Kontakte und Kommunikation im 11. Jahrhundert in der gesamten christlichen Welt – und nicht nur im mittelalterlichen Westen – besser in den Blick zu bekommen. Damit verbunden ist eine Neuadjustierung unseres Verständnisses von jenen kulturellen und gesellschaftlichen Trends, die "in der Luft lagen", als die Kreuzzüge lanciert wurden.

Tara L. Andrews ist seit 2016 Universitätsprofessorin für Digital Humanities an der Universität Wien. Sie erlangte ihr B.Sc. 1999 am MIT nach einem Kombinationsstudium aus Geschichte, Informatik und Elektrotechnik. Nach einer Phase als Software Release Engineer bei Akamai Technologies und Goldman Sachs kehrte sie zur akademischen Laufbahn zurück und erwarb einen MPhil (Byzantine Studies, 2005) und DPhil (Oriental Studies, 2009) an der Universität Oxford, wo sie auch für ein Jahr als Departmental Lecturer in Byzantine History lehrte. Zwischen 2010 und 2013 befasste sie sich als Postdoctoral Fellow an der KU Leuven im Rahmen des Projekts "Tree of Texts" mit digitaler Stemmatologie, von 2013 bis 2016 war sie Assistenzprofessorin für Digital Humanities an der Universität Bern.

Mini-Dynamos für höhere Effizienz von Brennstoffzellen
Die Chemikerin Jia Min Chin interessiert sich für die hoch komplexe Struktur von Materialien über verschiedene Größenmaßstäbe hinweg: ausgehend von der Molekular-, Nano- und Mikroebene bis hin zur Makroebene. Wie lässt sich strukturelle Komplexität in synthetische Verbundmaterialien vom Kleinen zum Großen einbauen? Wie kann man kaum steuerbare Kleinstteilchen, die 1.000-mal kleiner als ein Sandkorn sind organisieren, sodass das Material später seine Funktion viel besser erfüllt? Ziel des ERC Consolidator Grant-Projektes ist es, mit Hilfe von elektrischen Feldern die Kleinteilchen – als Ausgangspunkt für hochfunktionelle Materialien – zu dirigieren. Dabei dienen metallorganische Gerüste als Basisbausteine auf molekularer Ebene. Konkret geht es um verbesserte Materialen für Anwendungen im Bereich "Grüne Energie", z.B. eine deutliche Effizienzsteigerung von verschiedenen Arten von Brennstoff-Zellen.

Jia Min Chin hat 2019 eine Tenure Track-Professur für Physikalische Chemie an der Universität Wien angetreten. Die Assistenzprofessorin der Fakultät für Chemie machte ihre Doktorarbeit am MIT in den USA unter Chemie-Nobelpreisträger Richard R. Schrock. Anschließend forschte sie am Institute of Materials Research and Engineering in Singapur, wo sie ein Labor für fortgeschrittene poröse Materialien aufbaute und leitete. Die Preisträgerin des "L‘Oréal Singapore for Women in Science National Fellowship" wechselte dann 2014 als Lecturer an die University of Hull in Großbritannien, wo sie bis zu ihrem Wechsel an die Universität Wien eine Forschungsgruppe leitete.

Poetry Slam und die Poesie des Sprechens
Die Literaturwissenschafterin Julia Lajta-Novak will in ihrem Projekt ein wichtiges Kapitel der britischen und irischen Lyrikgeschichte (1965-2020) neu schreiben, indem sie den Fokus vom geschriebenen auf das gesprochene Wort verlegt. Dafür kooperiert sie unter anderem mit dem Spoken Word Archive der Organisation Apples & Snakes, das erst vor kurzem eröffnet wurde. In ihrem Projekt will die Anglistin eine Methode der Lyrikgeschichtsschreibung entwickeln, die speziell auf den mündlichen Vortrag abzielt. Dabei gilt es, eine Vielzahl an bisher unzureichend beachteten Faktoren in die wissenschaftliche Betrachtung miteinzubeziehen – beispielsweise das ästhetische und semantische Potential von mündlichen Performances, die Publikationen in multimedialen (Online-)Kanälen sowie die Darbietungsformen, Stile und poetischen Genres, die innerhalb der Performance-Szene neu entstanden sind. Diese Methode wird über den britischen Kontext hinaus anwendbar sein und damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der mündlichen Lyrik allgemein darstellen.

Julia Lajta-Novak ist Elise Richter Fellow (FWF) am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien und forscht derzeit zu biographischen Romanen über historische Künstlerinnen. Forschungsaufenthalte führten sie u.a. an das King’s College London, das Institute of English Studies der Universität London, die English Faculty der Universität Oxford und nach Salzburg, wo sie auch den Preis der Universität Salzburg für hervorragende Lehre erhielt. Sie ist FWF-START-Preisträgerin und Mitglied der Jungen Akademie der ÖAW. 

Warum unterscheiden sich Geschwister äußerlich so oft?
Die Bildung von gesunden Geschlechtszellen – wie Spermien und Eizellen beim Menschen –  basiert auf einem Prozess namens "crossing-over". Hierbei tauschen mütterliche und väterliche Chromosomen genetische Informationen aus. Crossing-over trägt wesentlich dazu bei, dass jede Geschlechtszelle eine einzigartige, durchmischte Version des elterlichen Erbgutes trägt. Mithilfe des ERC Consolidator Grants werden Joao Matos und sein Team in noch nie da gewesener molekularer Detailgenauigkeit zeigen, wie der Austausch von genetischen Informationen entlang von Chromosomen vor sich geht. Als erstes Ziel werden die Forscher eine hochauflösende Methode entwickeln, Crossover auf dem gesamten Genom zu "kartographieren". Ein zweites Ziel ist es, die Feinstruktur der Chromosomen an den Stellen, an denen Crossover passieren, zu untersuchen. Durch das Verständnis, wie Zellen Gene austauschen, hofft das Team die molekularen Grundlagen der Vererbung zu verstehen: die Weitergabe von Eigenschaften von Eltern an ihre Nachkommen.

Joao Matos hat sein Doktorat am Max-Planck-Institut für Zellbiologie und Genetik in Deutschland absolviert. Für seine Dissertation erhielt er 2009 die Otto Hahn Medaille der Max-Planck-Gesellschaft. Im selben Jahr begann er seine Forschung als Postdoc in den "Clare Hall Laboratories" in Großbritannien. 2014 wurde er als Professor für zelluläre Biochemie an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich berufen. 2017 wurde er zum EMBO Young Investigator ernannt. Seit 2020 ist Joao Matos Professor für Zell- und Entwicklungsbiologie an der Universität Wien. Seine Forschungsgruppe an den Max Perutz Labs untersucht, wie Zellen die Funktion von DNA-Reparaturenzymen während der Mitose und Meiose anpassen.

Wie man Algebra und Geometrie zusammenbringt
Es ist kein Geheimnis, dass Catalan-Zahlen in der Mathematik allgegenwärtig sind. Anton Mellit glaubt, dass der Versuch, ihr mysteriöses Aussehen an scheinbar nicht verwandten Orten zu erklären zu vielen interessanten Entdeckungen führen wird. In seinem ERC Consolidator Grant Projekt plant er, algebraische und geometrische Methoden zusammenzuführen, um offene Probleme in der Mathematik zu adressieren – beispielsweise in der Kombinatorik, der niedrigdimensionalen Topologie, der algebraischen Geometrie und der mathematischen Physik. In all diesen Bereichen werden durch Berechnungen bestimmter algebraischer Invarianten geometrischer Objekte Catalan-Zahlen und ihre verschiedenen Verallgemeinerungen erzeugt. 

Anton Mellit erhielt seinen Bachelor- und Master-Abschluss am Kiewer Polytechnischen Institut und studierte weiterhin Mathematik in Bonn, wo er 2008 promovierte. In den Jahren von 2008 bis 2017 hatte er Postdoc-Stellen am Max-Planck-Institut für Mathematik und Hausdorff-Zentrum für Mathematik in Bonn, Universität zu Köln, am International Center for Theoretical Physics und der International School for Advanced Studies (SISSA) in Triest und am Institute of Science and Technology Austria inne. Seit 2017 ist er Assistenzprofessor an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien.

Suche nach Lebensspuren auf dem Planeten Mars
Die Suche nach biologisch getriebenen Veränderungen auf dem Mars und seinem Potenzial als Lebensraum für vergangenes oder gegenwärtiges Leben ist ein Hauptziel der bevorstehenden Marserkundungsmissionen. Da uns schon bald Proben unseres Nachbarplaneten zur Verfügung stehen könnten, sollten wir besser verstehen, wie diese Proben auf Spuren von Leben und auf potenzielle biologische Signaturen hin untersucht werden können. Das ERC Consolidator Grant-Projekt hat zum Ziel, eine solche Analyse zu entwickeln: Es werden im Labor chemolithotrophe Mikroben auf Marsmeteoritengestein gezüchtet und entsprechende Fingerabdrücke erzeugt. Die Analyse der mineralogischen und metabolischen Biosignaturen auf Marsmeteoriten mit Hilfe von Labor-, Feld- und Weltraumexperimenten wird dazu beitragen, die Daten künftiger Marsmissionen besser verstehen und kritisch interpretieren zu können – als ein wichtiger Beitrag auf der Suche nach Leben abseits der Erde.

Tetyana Milojevic leitet die Gruppe Weltraumbiochemie am Institut für Biophysikalische Chemie der Universität Wien. Sie studierte und promovierte in Kiew, Ukraine und war als Postdoc ab 2001 am Institut für Pharmakologie der Medizinischen Universität Wien sowie an den Max F. Perutz Laboratories (MFPL) tätig. Als Elise-Richter-Stipendiatin wechselte sie 2014 an die Fakultät für Chemie der Universität Wien. Milojevic ist als Vizepräsidentin und Vertreterin von Österreich im Europäischen Astrobiologischen Netzwerk EANA tätig.

Wie versucht der chinesische Staat Verhalten zu steuern?

Mit dem sozialen Kreditsystem hat der die Volksrepublik China ein Experiment begonnen, dessen Ziel es ist vertrauenswürdigeres Verhalten in Wirtschaft und Gesellschaft zu generieren. Das soziale Kreditsystem sammelt Informationen aller Bürger, Unternehmen und Organisationen und versucht über Anreize und Strafen das Verhalten zu steuern. In den kommenden fünf Jahren wird H. Christoph Steinhardt in seinem ERC Consolidator-Projekt das soziale Kreditsystem mit Umfragen, Feldforschung, sowie qualitativer und quantitativer Inhaltsanalyse beleuchten. Das Projekt ENGINEERING wird die Evolution des sozialen Kreditsystems, seine Wahrnehmung in der chinesischen Öffentlichkeit sowie seine sozialen, politischen und kulturellen Folgen untersuchen. Damit wird das Projekt helfen zu verstehen, welche seiner Ziele der die Volksrepublik China umsetzen kann und welche nicht intendierten Folgen dieses gesellschaftliche Experiment nach sich zieht.

H. Christoph Steinhardt studierte Sozialwissenschaften in Göttingen und Berlin. 2012 promovierte er in Politikwissenschaften an der Chinese University of Hong Kong. Er war Predoc-Fulbright Fellow an der University of California, Irvine und Postdoc an der National University of Singapore. Von 2013 bis 2017 war er Assistenzprofessor an der Chinese University of Hong Kong und war Leiter eines Projekts des Hong Kong Research Grants Council. Seit 2018 ist er Assistenzprofessor am Institut für Ostasienwissenschaften/Sinologie der Universität Wien.

Voraussetzungen für Fertilität im globalen Vergleich 
Heutzutage sind Frauen in Ländern mit hohem Einkommen bei der Geburt ihrer Kinder in der Regel über 30 Jahre alt. Ob Paare Kinder haben werden oder nicht, und wie viele, wird zunehmend von ihren Wünschen und den Möglichkeiten bestimmt, Kinder im späteren reproduktiven Alter zu bekommen. Die Bedingungen, die Personen in ihren Dreißigern vorfinden, nehmen somit endscheidend Einfluss auf die Fertilität. Das Ziel von BIC.LATE ("Biological, Individual and Contextual Factors of Fertility Recovery") ist die Untersuchung dieser Voraussetzungen. Im Rahmen des Projekts wird die Bedeutung von Unfruchtbarkeit und assistierter Reproduktion für die Erholung der Fruchtbarkeit bewertet. Es wird davon ausgegangen, dass dabei neue Ungleichheiten entdeckt werden und Unterschiede im Fertilitätsniveau in Ländern mit niedriger Fertilität erklärt werden können. BIC.LATE geht nicht davon aus, dass Fertilität in einem globalen Kontext erklärt werden kann, sondern setzt voraus, dass diese abhängig vom Alter von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. 

Eva Beaujouan ist seit 1. November 2020 Assistenzprofessorin am Institut für Demografie der Universität Wien. Bis dahin war sie am Institut für Demographie der ÖAW tätig, wo sie den ERC Consolidator Grant einreichte. Nach einer Doktorarbeit am Institut national d'études démographiques (INED) arbeitete sie drei Jahre lang als Postdoc am ESRC Centre for Population Change (University of Southampton). Seit 2012 ist sie Teil des Wittgenstein Centres for Demography and Global Human Capital (IIASA, ÖAW, Universität Wien), zuerst am Institut für Demographie und an der Wirtschaftsuniversität Wien und jetzt an der Universität Wien. Gegenwärtig leitet sie ein dreijähriges Projekt über späte Fertilität in Europa, das vom FWF finanziert wird.

Weitere Informationen zu den ERC-Preisträger*innen der Universität Wien: https://www.univie.ac.at/forschung/forschung-im-ueberblick/erc-grants

Weitere Informationen: 
http://erc.europa.eu/

Rückfragehinweis

Pia Gärtner, MA

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