Europas Biodiversität als Spiegel seiner Wirtschaftsgeschichte

Utl.: 20 bis 40 Prozent der heimischen Arten gefährdet

Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des 20. Jahrhunderts hat Europas Flora und Fauna unter Druck gesetzt. Nationale Rote Listen bewerten im Schnitt 20 bis 40 Prozent der heimischen Arten als gefährdet. Da sich Umweltzerstörungen oft erst mit langer Verzögerung auf die Biodiversität auswirken, ist die reale Bedrohungssituation wahrscheinlich größer als bisher angenommen. Zu diesem Schluss kommt ein internationales ForscherInnen-Team unter der Leitung von Stefan Dullinger, Universität Wien, und Franz Essl, Umweltbundesamt. Ihr Artikel erscheint aktuell in der angesehenen US-amerikanischen Fachzeitung PNAS.

Die nationalen Roten Listen gefährdeter Tier- und Pflanzen-Arten spiegeln die sozio-ökonomische Situation in Europa wider. "Zwischen der wirtschaftlichen Situation europäischer Länder und dem Zustand der nationalen Flora und Fauna besteht ein Zusammenhang. In dichter besiedelten und wirtschaftskräftigen Ländern ist der Druck auf die Lebensräume von Tieren und Pflanzen stärker und damit der Anteil gefährdeter Arten höher. Daran haben Investitionen in Umwelt- und Naturschutzmaßnahmen bislang leider auch wenig geändert", erklärt Stefan Dullinger, Professor für Vegetation Science der Universität Wien. Der Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsdichte und Wirtschaftskraft eines Landes und der Bedrohung seiner Flora und Fauna wurde in anderen Studien bereits betont. In ihrer aktuellen Arbeit zeigen die ForscherInnen jedoch, dass nationale Rote Listen vor allem historische sozio-ökonomische Verhältnisse widerspiegeln – nämlich besser als die aktuelle Situation.

Abgleich aktueller Roter Listen mit historischen Wirtschaftsdaten
Die ÖkologInnen haben Daten zu Besiedelungsdichte, Bruttosozialprodukt und Landnutzungsintensität aus den Jahren 1900, 1950 und 2000 in Zusammenhang mit den aktuellen Roten Listen verschiedener Tier- und Pflanzengruppen aus 22 europäischen Ländern analysiert und einen klaren Trend gefunden: "Je weiter wir ins 20. Jahrhundert zurückgehen, desto stärker wird der Zusammenhang zwischen den demographischen und wirtschaftlichen Daten und unserer aktuellen Einschätzung der Gefährdungssituation von Tieren und Pflanzen. Wir schließen daraus, dass sich in den aktuellen Roten Listen die Folgen bereits jahrzehntealter sozio-ökonomischer Verhältnisse spiegeln", so Stefan Dullinger. Die Langzeitfolgen wirtschaftlicher Entwicklungen auf die Biodiversität wurden also bislang unterschätzt.

Langzeitfolgen unterschätzt – Rote Listen werden länger
Der naheliegende Umkehrschluss: "Die Folgen unseres heutigen Handelns für Europas Biodiversität werden vermutlich erst in mehreren Jahrzehnten zur Gänze sichtbar sein", erläutert Franz Essl vom Bundesumweltamt. Die Einflussnahme des Menschen auf die europäische Flora und Fauna hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts massiv verstärkt. Durch die Zerstörung von Lebensräumen, eine vermehrte Schadstoffbelastung, Klimawandel und biologische Invasionen gerät die heimische Tier- und Pflanzenwelt immer stärker unter Druck. "Die Roten Listen werden in Zukunft länger werden und viele der aktuell bedrohten Arten könnten tatsächlich aussterben, wenn nicht rechtzeitig und ausreichend in Gegenmaßnahmen investiert wird", warnt Ökologe Dullinger.

Publikation in PNAS
Stefan Dullinger, Franz Essl, Wolfgang Rabitsch, Karl-Heinz Erb, Simone Gringrich, Helmut Haberl, Karl Hülber, Vojtech Jarošík, Fridolin Krausmann, Ingolf Kühn, Jan Pergl, Petr Pyšek, & Philip E. Hulme 2013: Europe's other debt crisis caused by the long legacy of future extinctions. – Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), April 15, 2013.
DOI: http://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1216303110 (verfügbar ab 15. April 2013)

Die Studie wurde von der EU im Rahmen des Forschungsprojektes ECOCHANGE, vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), dem deutschen Helmholtz-Programm "Earth and Environment" und der Tschechischen Republik gefördert.

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